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  • Umgezogen – check
  • Homepage aktualisiert und erste Kapitel bei allen Glitzibüchern eingefügt – check
  • Shoutbox/Chat auf die Startseite geschaufelt – check
  • Übersetzungsseite hinzugefügt – check
  • Catheiron in Blender gebastelt – check
  • Überlegt, das Catheironbild als Grundlage für ein Glitziposter zu nehmen – check
  • Überraschende Wendung in Glitzi 8 entdeckt – check
  • Jubiläumsgeschenk der rocky-beach.com erhalten – check
  • Kaffee gekocht – check

Jetzt kann ich weiterschreiben. 🙂

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Noch drei Kapitel …

… dann ist „Das Geheimnis von Chiarron“ ENDLICH fertig. Dann bastle ich noch flugs ein Titelbild, und ab Januar ist das Buch kaufbar. Wer mag, kann es gerne schon im Shop vorbestellen.

Die Übersetzung des vierten Bandes der Deacon-Saga ist fertig und liegt beim Verlag. Ich gehe davon aus, dass sie recht bald erscheinen wird. Band 5 steht auf meinem Plan, ich habe aber noch nicht angefangen.

Und da ich nun endlich umgezogen bin und eine eigene Wohnung habe, kann ich auch mit RZ 2 weitermachen.

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Das Geheimnis von Chiarron – Zweites Kapitel

Da ich nun ENDLICH weiß, wo ich in diesem Buch falsch abgebogen bin und wie ich es reparieren kann, kann ich auch das zweite Kapitel vorab einstellen. 🙂

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Konsequenzen

Philipp träumte vom Fliegen.
Das war nichts Neues; er hatte es getan, seit er zum ersten Mal ein Papierflugzeug aus dem Fenster geworfen hatte. Fliegen war sein großes Lebensziel, sein dringendster Wunsch, auf den er seit Jahren hinarbeitete und all sein Geld sparte. Allerdings war es meistens ein Tagtraum gewesen. Im Schlaf hatten ihn andere Träume heimgesucht: Abstürze, lähmende Schwere und jene seltsamen, fast schwerelosen Sprünge, die ihn doch immer wieder auf die Erde zurückzwangen. Nie hatte er im Traum in einem Flugzeug gesessen und zugesehen, wie die Welt unter ihm versank. Vielleicht lag es daran, dass die Sehnsucht so groß war, dass sein Unterbewusstsein davor zurückschreckte, sie in Traumbilder umzusetzen.
Aber jetzt war es anders. Jetzt wusste er, wie sich die Realität des Fliegens anfühlte. Und jetzt träumte er vom Fliegen – in einer qualvoll langen Nacht, allein mit der Angst, seinen Traum für immer zu verlieren. Für Sonja war er der große Bruder, der vor nichts Angst hatte, aber er war trotzdem erst neunzehn und wusste viele Dinge einfach nicht. Zum Beispiel, ob man überhaupt noch ein Flugzeug steuern durfte, wenn man einmal verdächtigt worden war, Komplize eines gefährlichen Mörders gewesen zu sein.
Darüber hatte er nicht nachgedacht, als er Ben nach Parva zurückgejagt hatte. Er hatte einfach gewusst, was er tun musste. Aber jetzt, nach der Begegnung mit der Polizei und dem Untersuchungsrichter, fielen all die Zweifel und Ängste über ihn her. In dieser Realität hatten Träume keinen Platz.
Der Traum endete mit dem Absturz, und Philipp schlug die Augen auf. Es war noch dunkel. Durch das Fenster sah er den Halbmond, der sich in dieser Nacht überhaupt nicht zu bewegen schien. Wahrscheinlich hatte Philipp nicht einmal eine Stunde geschlafen.
Untersuchungshaft, hatten sie gesagt. Vorläufig festgenommen wegen des Verdachts auf Fluchthilfe. Aber wenn Sie sich weiterhin weigern, mit uns zusammenzuarbeiten, werden wir einen Haftbefehl beantragen.
Philipp wollte sich gar nicht weigern. Er hatte ihnen alles gesagt, was sie über ihn wissen wollten. Geschwiegen hatte er erst, als sich die Fragen auf Ben und Asarié bezogen.
Wann und wo haben Sie Frau von Stetten zuletzt gesehen?
Wo ist Herr Arvin?
Nicht, dass er keine Antworten gewusst hätte.
Frau von Stetten habe ich zuletzt in einer Ruinenstadt in einer fremden Welt gesehen, als sie meiner Schwester ein magisches Amulett stehlen wollte. Sie wurde dort erst in einen Stein und dann in einen Baum verwandelt.
Herr Arvin ist in der fremden Welt und sucht ein Einhorn.
Da hatte er doch lieber den Mund gehalten. Aber das bedeutete, dass er sich auch nicht verteidigen konnte. Denn er hatte ja genau das getan, was sie ihm vorwarfen: er hatte Ben „zur Flucht verholfen”. Nur war Ben eben kein Verbrecher, sondern vielleicht der einzige, der dieses ganze Chaos jetzt noch entwirren konnte.
Sie hatten ihn gehen lassen. Er durfte die Stadt nicht verlassen, musste ständig erreichbar sein und hatte seinen Eltern erklären müssen, was passiert war – nicht nur seine Verhaftung und Bens Flucht, sondern natürlich auch Sonjas und Melanies Verschwinden, von dem er bis dahin noch gar nichts gewusst hatte. Es war ein sehr unerfreuliches Abendessen gewesen, voller Vorwürfe, Wutausbrüche und endlich bleiernem Schweigen. Und es half ihm überhaupt nicht, dass er in der Stille die Stimmen der Geister in seinem Kopf hörte.
Mit diesen Stimmen hatte er allerdings rechnen müssen. Man konnte nicht ein Wesen töten, das Seelendieb hieß, und sich dann wundern, wenn all die befreiten und jetzt körperlosen Seelen sich sofort einen neuen Körper suchten. Wie ein Insektenschwarm summten sie jetzt in ihm herum – verwirrt, orientierungslos, verängstigt und zornig. Und wenigstens einer dieser Geister war nicht nur zornig – er war rasend vor Wut. Offenbar hatte Sishyal, der mächtige Jäger, der Seelendieb, niemals damit gerechnet, eines Tages selber seine Seele zu verlieren. Jetzt raste er herum und warf sich gegen die Mauern seines Gefängnisses, und dass er Philipp noch nicht völlig irre gemacht hatte, lag nur daran, dass ihn die anderen Geister genauso wütend verfolgten. Ob sie nun Rache nehmen, ihn als eine Art Leithammel betrachteten oder ihn einfach nur einschüchtern wollten, wusste Philipp nicht, aber er war dankbar dafür, dass sie ihn in Ruhe ließen.
Nach dem Abendessen waren die Eltern wieder zu Paul ins Krankenhaus gefahren. Corinna hatte sich an den Computer gesetzt und drei Stunden lang feindliche Aliens weggeballert. Das war ihre übliche Methode der Entspannung, allerdings hatte es heute fast zwei Stunden gedauert, bis sie endlich so entspannt war, dass sie die Lautstärke von „höllenlaut“ auf „nervig“ herunterdrehte. Philipp hatte nachgedacht, so gut es ging, und keiner seiner Gedankengänge hatte ihm gefallen, denn jeder einzelne endete in demselben Satz.
Das muss aufhören.
Abenteuer in fremden Welten waren ja schön und gut, aber offenbar ging alles schief, sobald die Welten sich zu vermischen begannen. Ben und seine Leute hatten hier auf der Erde nach Magie gesucht – aber die Magie war ihnen aus Araun gefolgt. Ben hatte gesagt, dass sie sich hier nicht halten konnte, aber stimmte das wirklich? Wenn diese Magie vielleicht schon vor Hunderten von Jahren mit ihnen hergekommen war, konnte sie dann nicht eine Art Eigenleben entwickelt haben? Er hatte immer über Geister und Gespenster gelacht, aber jetzt gerade war ihm nicht mehr nach Lachen zumute. Eine verlorene Seele oder ein magisches Wesen aus Araun konnte auf der Erde verheerenden Schaden anrichten, wenn es nicht wie Ben fast völlig auf die Magie verzichtete, sondern sie zum Bösen verwendete.
So wie Sishyal.
Philipp wusste, dass nicht alle Seelen, die bei Sishyals Tod befreit worden waren, sich in ihm versammelt hatten. Einige waren weggeflogen, winzige verlorene Lichtfunken in einer gewaltigen, völlig fremden Welt. Was würde jetzt aus ihnen werden? Konnten sie überhaupt weiter… nun ja, „leben“ konnte man es nicht nennen. Weiterexistieren? Oder würden sie erlöschen wie Kerzenflammen? Vielleicht hatten sie sich alle schon längst aufgelöst und waren jetzt für immer fort. Zumindest war es das, was er hoffte, denn er hatte nicht die geringste Vorstellung, wie er verlorene Seelen einfangen und nach Parva zurückbringen konnte. Und damit hatte er das Problem noch gar nicht angesprochen, dass er nicht nach Parva gehen konnte, sondern hierbleiben und über die Nebelbrücke wachen musste.
Und es gab noch einen anderen, viel tiefergehenden Gedanken, der ihn bis zum Morgengrauen wachhielt und quälte.
Keiner der Geister in seinem Kopf war sein kleiner Bruder Paul. Und er wusste einfach nicht, ob das nun ein gutes Zeichen war … oder ein schlechtes.
Als draußen die ersten Vögel zu zwitschern begannen, schlief er ein und träumte davon, dass er in Sishyals Kopf gefangen war und mit ihm gemeinsam aus großer Höhe abstürzte. Und kein schwarzes Einhorn kam angaloppiert, um ihn zu retten.

Zwei Stunden später klingelte sein Wecker. Müde und zerschlagen quälte er sich aus dem Bett, hielt den Kopf unter Wasser und fuhr zur Arbeit. Er parkte sein Auto und betrat die Autowerkstatt, und dort trat ihm sein Kollege Martin ohne Gruß und ohne sein übliches Grinsen in den Weg. „Du sollst zum Chef kommen. Sofort.“
Philipp zog die Brauen hoch. „Morgen. Warum denn?“
Aber Martin antwortete nicht und drehte sich nur weg. Das sah ihm überhaupt nicht ähnlich. Stirnrunzelnd ging Philipp ins Büro. Dort saß die Sekretärin Janka, die ihn normalerweise ebenfalls anstrahlte, sobald er hereinkam. Heute schaute sie nicht einmal in seine Richtung, und da wusste er, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Mit einem sehr flauen Gefühl im Magen betrat er das Büro seines Chefs.
Friedhelm Walden stand am Fenster, die Hände auf dem Rücken verschränkt, und schaute hinaus. Er war ein dünner Mann Mitte Fünfzig, der Philipp vor drei Jahren nicht nur seine Vergehen gegen die Geschwindigkeitsbegrenzung verziehen, sondern ihm auch geholfen hatte, all die kleinen „Verbesserungen” an seinem Moped wieder abzuschrauben. Er hatte ihn bei seiner Begeisterung fürs Fliegen unterstützt und ihn ermuntert, sich für den Flugkurs am gerade vergangenen Osterwochenende anzumelden. Tatsächlich hatte er sich in den letzten Jahren viel mehr für Philipp interessiert als dessen eigener Vater.
Sein Büro war ein chaotisches Durcheinander aus Ordnern, losen Unterlagen, Werkzeugen und Fotos seiner Familie, während er gleichzeitig er auf absoluter Ordnung und Übersichtlichkeit unten in der Werkstatt bestand. Aber ebenso wie in der Werkstatt fand er auch hier jederzeit mit einem einzigen Griff alles, was er suchte.
Gewöhnlich fühlte Philipp sich hier ebenso wohl wie zu Hause. Er mochte das Chaos, er mochte den gutmütigen, pedantischen „Waldi”, und obwohl Automechaniker nicht gerade sein Traumberuf war, hatte er sich darauf eingerichtet, wenigstens die nächsten zehn Jahre hier zu verbringen. Aber als er jetzt das Büro betrat und Herr Walden sich zu ihm umdrehte, spürte er, wie etwas in Scherben ging. Einen solchen Blick hatte er im Gesicht seines Chefs noch nie gesehen, und da wusste er, was ihn erwartete. Nein, dachte er. Nein, nein, nein. Tu mir das nicht an.
Er bemühte sich, unbefangen zu sprechen, obwohl ihm plötzlich ein eisiger Kloß im Magen saß. „Morgen, Chef. Was gibt’s denn?“
Herr Walden zog die Brauen zusammen, schwieg noch einen Moment, als ob er nach Worten suchte. Dann sagte er: „Ich habe heute morgen die Zeitung gelesen, Herr Berger.“ Nicht: Philipp.
„Jaaaaa”, sagte Philipp. „Und?”
„Ich schlage vor, Sie fahren nach Hause und lesen sie ebenfalls.“
„Chef, mein Urlaub ist rum! Heute ist doch TÜV. Martin und ich wollten -“
„Herr Berger, Sie haben mich möglicherweise nicht richtig verstanden. Ich habe gesagt, fahren Sie nach Hause.“
Philipp starrte ihn an, und Herr Walden starrte zurück. „Chef, warten Sie -“
„Ich bin nicht länger Ihr Chef, Herr Berger. Ich kündige Ihnen fristlos. Holen Sie Ihre Sachen aus dem Spind und verlassen Sie mein Grundstück. Ihre Papiere schicke ich Ihnen per Post. Guten Tag.“
Er hatte es gewusst, aber die Worte trafen ihn trotzdem wie ein Schlag. Für einen Moment schrien hundert fremde Stimmen in seinem Kopf auf ihn ein, seine Knie wurden weich und er hielt sich am Türrahmen fest. „Chef -”, brachte er heraus. „Herr – Walden. Hören Sie mich -”
„Nein. Gehen Sie.”
„Bitte!”
„Nein! Raus!”
„Nein!”
Sie starrten einander an, und endlich brach die starre Maske des Mannes auf. „Philipp, verdammt nochmal! Wie konntest du so etwas tun?”
Philipp wurde es schwindlig vor Erleichterung Das war es, warum er weitere zehn Jahre hier arbeiten wollte: Mit „Waldi” konnte man reden und vielleicht noch etwas retten, aber er bewegte sich hier auf dünnem Eis. „Was habe ich denn getan? Was steht da in der Zeitung?”
„Reicht dir die Überschrift? Stadtbekannter Verkehrsrowdy verhilft mutmaßlichem Mörder zur Flucht – das hast du getan! Und du kommst hier rein und denkst, alles geht weiter wie bisher?”
„Wie bitte”, sagte Philipp. Mehr brachte er nicht heraus.
„Ja, wie bitte”, knurrte Herr Walden. „Normalerweise würde ich jetzt einen Witz über den stadtbekannten Verkehrsrowdy machen, aber das hier ist nicht zum Witzereißen. Ein mutmaßlicher Mörder? Und du hilfst ihm?”
„Okay”, sagte Philipp. „Moment. Geben Sie mir einen Augenblick Zeit.” Er holte tief Luft und versuchte, an dem Chaos in seinem Kopf vorbeizudenken. „Erst mal: Ben ist kein Mörder. Die Frau lebt, es geht ihr gut, sie ist in Schwierigkeiten, und Ben versucht, ihr zu helfen. Aber das kann er nicht, wenn er im Gefängnis sitzt. Deshalb habe ich ihm geholfen. Ich weiß, dass es verdächtig wirkt, und ich kann es nicht besser erklären. Aber es ist die Wahrheit.”
„Weil er es dir erzählt hat?”
„Nein, sondern weil ich dabei war.” Das stimmte nicht so ganz – er hatte Parva verlassen, bevor Asarié erst in einen Stein und dann in einen Baum verwandelt worden war. Aber kleine Details wie Einhörner, Magie, Göttinnen und fremde Welten ließ man besser aus, wenn man gerade mit seinem Chef um seine Zukunft feilschte.
„Und das hast du so auch der Polizei erzählt? Und warum überlasst ihr es nicht der Polizei, dieser Frau zu helfen? Was glaubt dieser Ben, was er besser kann als die Polizei? Und wie soll er es können, wenn er jetzt überall gesucht wird?”
Himmel, dachte Philipp. Das waren genau die Fragen, die er nicht beantworten konnte, ohne im Irrenhaus zu landen. „Chef – glauben Sie mir, wenn ich Ihnen erzähle, dass es so etwas wie eine diplomatische Mission ist?”
„Nein”, sagte Herr Walden. „Ich weiß, dass du kein Lügner bist, aber das ist dann doch etwas zu dick aufgetragen.”
Seien Sie doch froh, dass ich Ihnen nichts über Magie erzähle. Er warf einen Blick auf die Glastür zum Sekretariat und dachte einen verrückten Moment lang daran, seinem Chef – und Janka – zu zeigen, was er auch seiner Schwester Corinna einmal gezeigt hatte: dass er durch spiegelnde Oberflächen hindurchgreifen konnte. Aber am Ende zog er dann etwas heraus, das keine Melanie war. Und außerdem setzte Ben gerade sein Leben aufs Spiel, um die Magie vor den Menschen dieser Welt zu verbergen. Da konnte Philipp nicht einfach damit herumpfuschen, nur um seinen Job zu retten. Er blickte seinen Chef an und schüttelte den Kopf; mehr konnte er nicht tun.
„Philipp”, sagte Herr Walden, „es tut mir Leid. Ich glaube dir, dass die Dinge nicht so sind, wie sie in der Zeitung stehen. Und es tut mir sehr Leid, dich zu verlieren. Aber hier steht der Ruf meiner Werkstatt auf dem Spiel. Ich kann mir nicht leisten, mit so einer Sache in Verbindung gebracht zu werden, solange sie nicht zufriedenstellend aufgeklärt ist. Vielleicht geht das alles ja gut aus. Dann können wir …” Er unterbrach sich, überlegte und hob dann die Schultern. „Ich weiß nicht. Warten wir es ab.”
„Können Sie mir nicht einfach zwei Wochen unbezahlten Urlaub geben? Ich bin sicher, dass wir bis dahin -”
„Nein, Philipp. Wie gesagt – es tut mir Leid.”
Es war vorbei. Er gab auf. „Bekomme ich wenigstens ein Zeugnis?”
„Ja, natürlich. Und ich schreibe nichts über die Kündigung. Aufhebung des Arbeitsverhältnisses in beiderseitigem Einverständnis. Das ist alles, was ich tun kann. Damit kannst du dich … anderswo bewerben.”
„Danke”, sagte Philipp. Es war wenig genug, aber zumindest ließ es ihm die Tür einen Spalt weit offen. Aber es änderte nichts daran, dass sein Leben gerade restlos in Scherben gegangen war. Mit allem hatte er gerechnet, aber nicht damit, dass dieses verrückte und gefährliche Ponyhofabenteuer seine Zukunft zerstören würde. „Dann gehe ich jetzt.”
„Ja”, sagte Herr Walden. „Und … viel Glück.”
„Mhm.”
Auf den Händedruck verzichteten sie beide. Philipp verließ das Büro. Janka ignorierte ihn, und Martin steckte mit dem Kopf im Motorraum eines Autos und blickte nicht hoch, als Philipp die Werkhalle durchquerte, seinen Spind ausräumte und hinausging.

Komischerweise schien draußen die Sonne. Der Himmel war strahlend blau und wolkenlos. Vögel sangen, Kinder spielten, Leute gingen einkaufen. Die Welt hatte nicht aufgehört, sich zu drehen, nur weil Philipp Berger seinen Job verloren hatte. Alles ging einfach weiter, und es gab noch nicht mal eine dramatische Begleitmusik. Philipp entsorgte seine blaue Latzhose, seine lustigen Spindbilder und seine Arbeitsschuhe im nächstbesten Mülleimer, stieg in sein klappriges rotes Auto und fuhr nach Hause.
Wenn ihn jetzt jemand gefragt hätte, wie er sich fühlte, hätte er keine Antwort gewusst. Er fühlte gar nichts. Eine betäubte Leere – nein, nicht einmal das, weil die Geister in seinem Kopf herumtobten. Das war allerdings kein Gefühl, sondern eher ein nerviges Hintergrundgeräusch. Ein Ohrwurm aus unverständlichen Worten, fremdartigen Klängen und dem Winseln und Heulen von Wesen, über die er nichts wusste. Irgendwann würde er sich damit befassen müssen, aber nicht jetzt. Zuerst musste er sich arbeitssuchend melden, Versicherungen und Verwaltungskram erledigen, mit seinen Eltern reden, Bewerbungen schreiben … all die öden, unerfreulichen Dinge, von denen jetzt seine Zukunft abhing. Und es hatte ohnehin keinen Sinn, über Parva nachzudenken. Das war Sonjas Welt, nicht seine. Damit belog er sich natürlich selbst – er steckte schon viel zu tief mit drin. Aber welchen Sinn hatte Neugier, wenn er all diese fremden Wesen und die fremde Welt doch nie mehr sehen würde, weil der Zauber der Nebelbrücke ihn hier fesselte? Um die Geister wieder loszuwerden, brauchte er Ben und dessen Magie. Bis Ben zurückkam, konnte er überhaupt nichts daran ändern, dass ein Geisterchor in seinem Kopf herumheulte.
Er parkte am Straßenrand, stieg aus und schloss den Wagen ab. Vielleicht würde er das Auto verkaufen müssen, obwohl er es doch erst ein paar Monate besaß. Er wollte nicht darüber nachdenken. Er machte sich auf den Weg zur Haustür und blieb abrupt stehen.
Dort stand eine dürre alte Frau in einem Gewand aus übereinandergeworfenen Lumpen, die früher einmal weiß gewesen waren. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt und starrte Philipp mit finsterem Blick und fest aufeinandergepressten Lippen entgegen. Auf ihrer Schulter krallte sich eine zerzauste Krähe fest.
Unwillkürlich blickte Philipp sich um, aber es gab kein Entkommen. Die Alte stand so vor der Tür, dass er sich an ihr hätte vorbeizwängen müssen, um ins Haus zu kommen. Und er war ganz sicher, dass er ihr  nicht einmal auf zwanzig Meter nahekommen wollte – nicht nur wegen des durchdringenden Modergeruchs, den der Wind zu ihm hinwehte. Aber weglaufen wollte er auch nicht. Also biss er die Zähne zusammen und ging auf sie zu. In drei Metern Entfernung blieb er stehen und sagte: „Hallo, Idore. Ich dachte, Sie sind in Parva.”
„Und ich dachte, der Alte hätte dir wenigstens ein bisschen Verstand eingebläut”, giftete die Hexe zurück. „Was hast du dir dabei gedacht, den Seelendieb totzuschlagen?”
„Habe ich nicht getan”, sagte Philipp. „Welcher Alte?”
„Der alte Meister, verflucht soll er sein! Der Brückenbauer.”
„Ben?”
Idore funkelte ihn böse an. „Wie offensichtlich muss das denn noch sein? Und womit hat er hier eigentlich seine Zeit verschwendet, wenn nicht damit, euch beizubringen, dass man in dieser toten Welt keine Geister freisetzt?”
Philipps Wangen wurden heiß. „Erstens ist unsere Welt nicht tot. Und falls Sie zweitens auf Sishyal anspielen, hätten Sie vielleicht verhindern können, dass er hier herüberkommt! Wenn er uns nicht angegriffen hätte, wäre das alles nicht pass-” Er stutzte. „Woher wissen Sie das überhaupt?”
„Dummkopf! Jahrtausendelang habe ich darüber gewacht, dass kein Unbefugter zwischen den Welten herumspringt, und da glaubst du, ich merke es nicht, wenn Sishyal mit seinen Opfern wie eine Feuerwolke durch die Dunkelheit rast? Wie, glaubst du, habe ich dich gefunden? Du bist jetzt Sishyal! Du leuchtest wie ein Warnfeuer auf den Bergen.” Wütend starrte sie ihn an. „Du kommst mit mir.”
„Was?” Erschrocken und überrumpelt trat er einen Schritt zurück. „Wohin?”
„An den einzigen Ort, an dem ich dich und die Geister wieder trennen kann.”
„Und welcher Ort ist das?” Einen verrückten Augenblick lang dachte er an den Waldhof, dann an Gut Stettenbach. Und einen weiteren Moment lang war er Idore grenzenlos dankbar, dass sie ihm helfen wollte. Aber dann schrillten in seinem Kopf sämtliche Alarmglocken los. „Nein! Warten Sie! Ich kann nicht nach Parva! Die Neb-”
„Halt den Mund!”, fauchte die alte Frau und packte sein Handgelenk in einem eisenharten Griff. Philipp wollte sich losreißen, aber der Griff war fest wie ein Schraubstock. Und als er den Mund öffnete, um sie anzubrüllen, kam kein einziger Ton heraus. Sie hatte ihn verhext! Er wehrte sich verzweifelt, aber da stieß die Krähe einen seltsam klagenden Laut aus, der überhaupt nicht wie ein Krächzen klang, sondern eher wie ein Flötenton. Süß, traurig, lockend … er schaute zu ihr hin, und als ihre Blicke einander begegneten, wurde es dunkel um ihn.

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EZ/NB 1, 2 und 5 jetzt als gedruckte Bücher bestellbar

Es ist endlich soweit: ich habe Band 1 und 2 als EBook und Taschenbuch fertig. Hat ja auch nur fast zehn Jahre gedauert… jedenfalls sind sie jetzt bestellbar. Auch Band 5 ist jetzt als Taschenbuch kaufbar. Entweder bei mir oder, wenn es noch vor Weihnachten sein soll, direkt bei Lulu.

Ich liste einfach mal alle auf.

1: Das schwarze Einhorn: E-Book bei Amazon / Taschenbuch bei Lulu

2: Die Weißen Schwestern: E-Book bei Amazon / Taschenbuch bei Lulu

3: Die zerbrochene Stadt: E-Book bei Amazon / Taschenbuch bei Lulu

4: Das Volk im Kristall: E-Book bei Amazon / Taschenbuch bei Lulu

5: Die Vögel des Feuers: E-Book bei Amazon / Taschenbuch bei Lulu

6: Die Insel der Nebelkönige (nur als E-Book, weil das Cover beim PC-Crash verlorengegangen ist und ich es noch nicht neu gebastelt habe): E-Book bei Amazon

7. Seelendieb: E-Book bei Amazon / Taschenbuch bei Lulu

 

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Das Geheimnis von Chiarron – Erstes Kapitel

Weil das hier so ewig dauert, stelle ich für alle, die auf Band 8 warten, das erste Kapitel ein.


Im Weißen Meer

Nun waren sie also endlich wieder in Parva – nur, um es sofort wieder zu verlassen.
Der Nebel, den Sonja mittlerweile zu hassen gelernt hatte, waberte in dichten Schwaden um sie herum. Körperlos, unangreifbar, ein unüberwindbares Hindernis, das ihr einfach einen ihrer Sinne raubte. Der Nebel machte sie blind und baute Mauern um sie auf, die sie am liebsten mit Feuer und Schwert niedergerissen hätte. Oder mit einer Windmaschine. Während sie vorsichtig über die Felsen der Nebelküste nach unten kletterte, malte sie sich aus, wie sie einen riesigen Ventilator oben an der Küste aufstellte und der gesamte Nebel weggeblasen wurde, bis man endlich mal wieder sehen konnte, was man tat.
Von oben rief Melanie: „Siehst du schon den Boden, Frau Frodo?” Der Satz endete in einem Husten.
Trotz allem musste Sonja kichern. Sie hielt kurz an, rückte ihr Gesichtstuch gerade und warf einen Blick über den linken Arm nach unten. Dort waberte formloses Grau. „Noch nicht, Sam”, rief sie zurück und hustete ebenfalls. Die Tücher schützten zwar ein wenig gegen die giftige Luft, aber angenehm war das Atmen deshalb noch lange nicht. Jeder Atemzug kratzte im Hals und schmeckte nach Kohle. Und immer wieder mussten sie anhalten und sich die tränenden Augen wischen.
Es war überhaupt nicht schlau, in dieses Nebelmeer hinabzusteigen … aber diesmal war es wenigstens nicht ihre eigene dumme Idee gewesen, sondern die eines wahnsinnigen Königs.
Das war doch bestimmt ein Trost.
Dabei hatten sie noch Glück gehabt. Nur zu gut erinnerte sich Sonja an die schrecklichen Tage, als der Nebel über Parva gekommen war – eine hochgiftige graue Wolke, die alles zerstört und vergiftet hatte, was sie berührte. Selbst Nachtfrost war davor geflohen. Sonja hatte erwartet, dass das Weiße Meer mit diesem Nebel gefüllt war, aber vielleicht gab es unterschiedliche Formen von Nebel. Obwohl jeder Atemzug kratzte und schmerzte und ihre Haut unangenehm prickelte, war der Abstieg – bis jetzt – noch nicht tödlich. Das gab ihr die Hoffnung, dass sie ihre unmögliche Aufgabe vielleicht doch erledigen konnten.
„Verdammt”, sagte Melanie. Sam hätte das nie gesagt. „Wir klettern doch bestimmt schon über einen Stunde hier runter!”
So lang kam es Sonja gar nicht vor, aber sie sparte sich die Antwort. Was machte es in dieser Welt schon für einen Unterschied, ob sie zehn Minuten oder eine Stunde unterwegs waren? Die Zeit war hier in jedem Fall ein Feind, noch unbarmherziger und unbekämpfbarer als der Nebel.
Eisfeder, dem weißen Einhorngeist, machte weder die Zeit noch der giftige Nebel etwas aus. Mit kleinen, zierlichen Sprüngen von Felsen zu Felsen begleitete sie Sonjas und Melanies Abstieg, obwohl Sonja vermutete, dass sie auch einfach hätte fliegen können. Manchmal blieb sie stehen, hob den Kopf und spitzte die Ohren, aber falls sie etwas anderes hörte als die Geräusche des Kletterns, sagte sie es nicht.
Sonja blickte wieder über die Schulter nach unten. „Da ist ein Felsvorsprung. Pause?”
„Jepp.”
Sie kletterte zu dem Vorsprung hinunter und setzte sich hin. Der Stein war kalt; lange würde sie hier nicht sitzen können, aber ihre Beine brauchten einfach ein paar Minuten Erholung. Noch vor einem Jahr hätte sie den Abstieg wahrscheinlich überhaupt nicht geschafft, aber die Reisen durch Parva, der Reitunterricht bei Ben und die Arbeit auf Gut Stettenbach hatten ihr tatsächlich Muskeln und Ausdauer beschert. Aber dieses Klettern war eine ganz neue Art der Anstrengung. Vor allem, wenn man dabei nicht richtig atmen konnte.
Japsend kam Melanie bei ihr an und setzte sich neben sie. „Wie tief geht das denn noch?”
„Die hätten uns ruhig an einem ehemaligen Strand absetzen können”, stimmte Sonja zu. „Nicht an einer Steilküste.”
„Die” waren die Knechte von Darians Vater, König Ghadan, der den idiotischen Einfall gehabt hatte, Sonja und Melanie im Weißmeer nach Darian und Nachtfrost suchen zu lassen. Obwohl er genau wie die beiden Mädchen wusste, dass sich in diesem Meer Geschöpfe aufhielten, die früher einmal Meerestiere gewesen waren. Und Sonja hatte überhaupt keine Lust, sich mit außeriridischen Haien und Muränen anzulegen, die durch den dämonischen Nebel irgendwie verändert worden waren. Sie erinnerte sich an den Fährmann, der ihnen bei der Fahrt nach Raskyd gesagt hatte, dass sie ihre Hände lieber bei sich behalten sollten, statt sie in den Nebel auszustrecken. Irgendein monströses Wesen hätte sie packen und in die Tiefe reißen können.
Und jetzt waren sie mittendrin.
Bisher hatten sie allerdings zum Glück noch nichts gehört, das auf fliegende Meeresungeheuer hindeutete. Nur ihr eigener Husten und die Klettergeräusche durchbrachen die Stille. Leider bedeutete es, dass sie auch nichts gehört hatten, das ihnen verraten hätte, ob Darian und Nachtfrost jemals hiergewesen waren.
Melanie hielt ihr ein Stück Brot hin. Sie aß es auf und kramte dann die lederne Wasserflasche aus ihrem eigenen Rucksack. Viel hatten die Knechte ihnen nicht mitgegeben. Erwarteten sie, dass sie mit Sonjas kleinem Messerchen fliegende Riesenhaie jagten? Oder gingen sie davon aus, dass die beiden Mädchen schon nach kurzer Zeit aus dem Weißmeer fliehen würden? Sonja wollte nicht fliehen, sie wollte Darian und Nachtfrost finden, aber wenn sie daran dachte, dass ihnen recht bald eine Nacht in pechschwarzer Finsternis bevorstand, wurde ihr ziemlich mulmig.
Sie tranken ihr Wasser, Sonja packte die Flasche wieder weg, und sie kletterten weiter.

„Was ist das?“, flüsterte Melanie so plötzlich, dass Sonja zusammenzuckte.
„Was? Wo?“
„Da rechts. Sieht wie eine Fahne aus.“
Sonja verrenkte den Hals. In etwa zwanzig Metern Entfernung erkannte sie eine Holzstange, an deren oberen Ende ein Stück Stoff befestigt zu sein schien. Sie änderte die Richtung und hangelte sich seitwärts darauf zu. Melanie folgte ihr, und Eisfeder hüpfte voraus.
Nach kurzer Zeit erkannte Sonja eine weitere Stange zehn Meter von der ersten entfernt, dann zehn Meter weiter die nächste. Eine ganze Reihe schien dort ein einem weiten Bogen oder einer Linie in den Boden gerammt worden zu sein. Als sie die erste Stange erreichten, erkannten sie, dass der Fetzen nicht aus Stoff, sondern aus dünnem Leder war und wohl schon seit sehr langer Zeit hier hing. Das Leder war zerschlissen und fast schwarz, und der Knoten sah aus, als wäre er zusammengewachsen. Am Fuß der Stange lag eine Kette aus verwitterten Holzperlen.
Die beiden Mädchen schauten sie an, dann gingen sie weiter zur nächsten Stange. Auch hier hing ein alter Lederfetzen, auch hier lag eine Kette aus Holzperlen. Am Fuß der nächsten Stange lag ein völlig verrostetes kleines Messer. Und so ging es weiter. Eine Stange nach der anderen tauchte im grauen Nebel auf, ein Lederfetzen löste den nächsten ab. Nur einen Unterschied gab es: die Fetzen wirkten immer weniger alt, die Perlen weniger verwittert. Und auch das Holz der Stangen schien jünger. Sie begriffen, dass diese Stangen nicht alle gleichzeitig, sondern über viele Jahre hinweg aufgestellt worden waren. Und ein Ende der Reihe war nicht zu erkennen, obwohl sie schon mehr als zwanzig gefunden hatten.
„Das ist gruselig“, flüsterte Melanie.
Sonja nickte. „Ich frage mich, wozu sie aufgestellt wurden.“
Eisfeder blieb in einiger Entfernung stehen. Die Luft ist voller Trauer. Spürt ihr es?
Trauer? Sie schauten einander an. „Ich spüre nur den Nebel“, sagte Melanie. „Das ist traurig genug, oder?“
Aber Sonja fühlte, was Eisfeder meinte. Diese Stangen waren nicht einfach irgendwelche Stäbe im Boden. Sie waren von Menschen aufgestellt worden … oder zumindest von intelligenten Wesen … vor langer Zeit. Um an etwas zu erinnern, das verloren war. Sie erschauerte.
„Gehen wir weiter?“
„Mhm.“
Der Boden fiel hier nicht mehr steil ab. Es ging zwar immer noch nach unten, aber sie konnten jetzt gehen, statt klettern zu müssen. Aber einen ausgetretenen Weg gab es nicht. Sie gingen über Felsen und Sandboden, sprangen über klaffende Spalten und mussten hin und wieder lange Umwege machen, wenn ein großer Felsabschnitt vor ihnen aufragte oder ein Spalt zu breit zum Überspringen war. Hin und wieder schossen kleine dunkle Wesen aus Löchern und Schatten, flitzten davon und verschwanden im Nebel.
„Merkst du was?“, sagte Melanie. „Es wird dunkel.“
Sonja merkte es, und ohne weitere Absprache rückten sie enger zusammen und fassten sich an den Händen. Eisfeder kam näher heran. Je dunkler es um sie herum wurde, desto heller schimmerte das kleine weiße Einhorn, bis es tatsächlich wie eine Lampe leuchtete. Es trabte jetzt vor ihnen her, so dass sie die Steine und Hindernisse auf dem Boden besser erkennen konnten. Sie starrten so hypnotisiert nach unten, dass sie die Felswand erst bemerkten, als sie fast mit den Nasen dagegenstießen. Eisfeder war stehengeblieben.
„Huch?“, sagte Melanie. „Warum halten wir an?“
Etwas kommt, sagte das Einhorn. Macht euch ganz klein und drückt euch an den Fels. Schnell! Das Licht erlosch, und nun sahen sie gar nichts mehr. Aber jetzt konnten sie etwas hören.
Es war ein rhythmisches Knarren oder Brummen, ein Geräusch wie von einer sehr schweren Tür, die ganz langsam immer wieder geöffnet und wieder geschlossen wurde. Nach der langen Stille war es das gruseligste Geräusch, das Sonja je gehört hatte. Sie duckte sich, krabbelte zum Felsen hin und machte sich so klein wie möglich. Melanie drückte sich eng an sie, und ihnen wurde zum ersten Mal peinlich bewusst, wie lange sie sich nicht mehr gewaschen hatten. Aber das war jetzt gerade nicht so wichtig. Sonjas Herz hämmerte in ihrer Brust, als sie nach oben schaute. Es war noch nicht ganz dunkel. Der Felsen war schwarz und die Welt dunkelgrau. Etwas Schwarzes glitt über ihnen durch das Grau, ein langer, flossenbewehrter Körper wie von einem Fisch. Mit jeder Flossenbewegung kam das Knarren und Brummen.  Ein träger Schlag mit der langen Schwanzflosse, und das Wesen verschwand in der Dunkelheit.
Melanie stieß ein Ächzen aus. „Was war das?“
Ein Kenach, sagte Eisfeder. Still!
„Und was -“ Mit einem Schreckenslaut brach sie ab.
Von unten hatten sie nicht erkennen können, wie groß dieser Fisch war, weil sie die Entfernung nicht schätzen konnten. Aber jetzt war er plötzlich vor ihnen. Aus der Finsternis kam ein kofferraumgroßes Maul voller schrecklicher Zähne geradewegs auf sie zu, und nun war es mit dem Verstecken vorbei. Sonja und Melanie schrien wie am Spieß.
Der Kenach warf sich zur Seite. Vielleicht war er nicht daran gewöhnt, dass sein Abendessen ihn ankreischte. Er glitt an ihnen vorbei und war mindestens zehn Meter lang, vielleicht noch mehr. Er verschwand und kam dann zurück, um sich genauer anzusehen, was da so schrie. Erst glitt das Maul an ihnen vorbei, dann eine Mauer aus glatter, scheckig gemusterter Haut, dann ein tellergroßes schwarzes Auge, das die beiden Mädchen anstarrte.
Dann glitt das Auge weg, das restliche Riesentier folgte, drehte ab und kam erneut mit sämtlichen Zähnen auf sie zu.
Flach auf den Boden!, rief Eisfeder.
Jetzt kreischten sie nicht mehr. Sie machten sich so platt wie möglich und hielten die Luft an. Eisfeder begann wieder zu leuchten, sprang vor dem riesigen Maul zur Seite und gleißte hell auf. Der Kenach schnellte herum und schnappte nach ihr. Die schrecklichen Kiefer krachten aufeinander. Eisfeders Licht verschwand, aber sofort war es wieder da. Das kleine Einhorn galoppierte ein Stück weit davon, hielt an, bäumte sich auf und stieß einen herausfordernden Schrei aus.
Der Kenach folgte ihr. Seine Schwanzflosse knallte gegen den Felsen über Melanie und Sonja, und dann glitt er hinter dem weißen Einhorn her. Steine krachten herunter, und Melanie schrie auf. Sonja zuckte hoch. „Was? Was ist los? Hast du dich verletzt?”
„Mein Rücken, es tut so weh -”
Bleibt liegen!, schrie Eisfeder in ihren Köpfen, und in der nächsten Sekunde war der Kenach wieder da. Ein gigantischer schwarzer Schatten, ein Maul voller Zähne, ein Auge voll tückischer Intelligenz. Wieder krachte die Schwanzflosse über ihnen gegen die Felsen. Offenbar hatte das Monster sofort begriffen, wie es seine Beute aus ihrem Versteck treiben konnte, und es schien auch zu erkennen, dass der weiße Happen vor seinem Maul keine vernünftige Mahlzeit war. Es ignorierte Eisfeder und knallte erneute die Schwanzflosse gegen den Fels. Ein paar Steinbrocken fielen herunter, und eine davon traf Sonjas Schulter. Sie schrie auf. Doch weitere Steine folgten nicht; der Kenach wollte sie hreaustreiben, nicht verschütten.
Das hat keinen Sinn, sagte Eisfeder. Das alles hier ist völlig unsinnig. Und damit – war sie einfach verschwunden.
„Eisfeder!”, schrie Melanie. „Wo gehst du hin? Komm zurück!” Der Schrei endete in einem Hustenanfall.
Aber das weiße Einhorn war weg. Der Nebel war dunkelgrau und undurchdringlich, und über dem Felsen glitt der riesige Dämonenfisch hin und her und lauerte darauf, dass seine Beute sich bewegte. Sonja umklammerte ihre schmerzende Schulter und drückte sich gegen den kalten, harten Stein. Irgendwann würde sie einsehen müssen, dass sie einfach nicht dazu geschaffen war, sich mit erhobenem Schwert in die Schlacht zu stürzen. Aber selbst für eine mächtige Kriegerin wäre das hier ein bisschen zuviel gewesen – eine verzweifelte Familie zu Hause, ein Freund unter Mordverdacht, eine Königin, deren Seele gefangen war, ein König, der vor Kummer den Verstand verloren hatte, irgendwo auf ihrer Spur ein Monster, das Seelen fraß, und direkt über ihren Köpfen ein hungriger Dämon, der an ihren Seelen ganz und gar nicht interessiert war. Und nun war auch noch ihr weißes Geistereinhorn verschwunden. War das vielleicht ein bisschen ungerecht? Oder hatten sie einfach alles falsch gemacht, weil es keine Prophezeiung mehr gab, an der sie sich entlanghangeln konnten? Woher sollte man in diesem Chaos überhaupt noch wissen, was richtig und was falsch war? Und würde ein Schwert ihnen auch nur das geringste bisschen nützen?
Die Eingeweide des Kenach ergossen sich in einem blutigen SCHLOMP über Sonja und Melanie, vom Himmel erstrahlte ein weißes Licht, und eine ehrfurchtgebietende Stimme verkündete: DAMIT SIND ALL EURE PROBLEME GELÖST. GEHET HIN IN FRIEDEN. UND IM NEBEL.
„Was gibt’s da so blöd zu kichern?”, fauchte Melanie, und Sonja stopfte sich ihren Stofffetzen in den Mund.
„Sorry.”
„Sie ist weg! Sie hat gesagt, dass sie bei mir bleibt, und dann haut sie einfach ab! Und du lachst auch noch!”
„Tut mir leid! Ich hab nicht darüber gelacht!”
„Gut zu wissen! Das hier ist nämlich nicht lustig!”
„Ich weiß.”
Wenn sie Glück hatten, verlor der Kenach einfach irgendwann das Interesse und schwamm/flog/glitt weg. Oder der Seelendieb kam doch endlich hinter ihnen her und fraß sie einfach auf. Oder noch besser: der Seelendieb kam und griff den Kenach an, und während sie sich gegenseitig fraßen, konnten Sonja und Melanie wegkriechen und …
… nicht etwa nach Parva zurückkehren.
Sondern noch tiefer in dieses Nebelmeer hinein. Wo das nächste Monster schon auf sie lauerte.
Wahrscheinlich waren noch nie zwei Heldinnen so unvorbereitet auf eine so gefährliche Reise geschickt worden. Eisfeder hatte Recht: das hier war vollkommen sinnlos.
Ganz kurz dachte Sonja an Nachtfrost. Noch vor ein paar Tagen hätte sie jetzt mit aller Kraft an die magische Verbindung zwischen ihnen gedacht und versucht, ihn mit ihren Gedanken zu Hilfe zu rufen. Wahrscheinlich hätte er sie sogar gehört, denn er war ja irgendwo hier in diesem Nebelmeer, also vielleicht gar nicht so weit entfernt. Und noch wahrscheinlicher wäre er auch sofort losgaloppiert, um sie zu retten.
Aber vielleicht stimmte das ja gar nicht mehr. Schließlich hatte er sie auf Gut Stettenbach einfach stehengelassen und war nach Parva zurückgaloppiert, um irgendwas zu tun, von dem sie nicht einmal wusste, was es war. Er hatte sie genauso im Stich gelassen wie Eisfeder jetzt Melanie. Vielleicht hatten die Einhörner einfach keine Lust mehr, mit den beiden Mädchen herumzuziehen. Und um es ganz deutlich zu sagen: Sonja war verletzt, enttäuscht und stinksauer auf ihr persönliches Einhorn. Natürlich wusste sie, dass das idiotisch war, schließlich waren Nachtfrost und Eisfeder keine Kuscheltiere, die ihnen rund um die Uhr zur Verfügung stehen mussten. Und wahrscheinlich hatten sowohl Nachtfrost als auch Eisfeder gute Gründe, um für eine Weile ohne Erklärung zu verschwinden. Aber sie war trotzdem sauer. Und sie würde Nachtfrost nicht bitten, sie zu retten.
Leider hieß das, dass sie sich selber retten mussten, und das war nicht so einfach. In Gedanken ging Sonja den Inhalt ihres Rucksacks durch. Leere Limoflasche. Ersatzpullover. Warme Bettsocken. Mickriges Messer, das nicht einmal die Haut des Kenachs ritzen würde. Flöte. Das nutzloseste Geschenk, das sie je erhalten hatte. Noch nie hatte sie diese Flöte für irgend etwas verwenden können. „Zum Musikmachen”, hatte Ganna gesagt – sollte sie dem Dämon vielleicht ein Lied vorspielen? Womöglich hatte sie damit sogar Erfolg – sie konnte nicht Flöte spielen, und das schauerliche Gepfeife würde den Kenach ganz sicher in die Flucht schlagen. Oder er wurde so wütend, dass er seinen Hunger vergaß und den gesamten Felsen über ihnen zu Klump schlug.
„Melanie, hast du irgendwas Nützliches in deinem Rucksack?”, flüsterte sie.
„Nein. Kannst du nicht mit dem Vieh reden?”
„Ich weiß nicht. Ich glaube nicht.”
„Versuch’s! Sonst sitzen wir in zehn Jahren noch hier!”
Sonja antwortete nicht. Stattdessen erinnerte sie sich an das scheußliche Gefühl, etwas wirklich Widerwärtiges, Krankes und Böses zu berühren, wann immer sie in Kontakt mit einer Dämonenseele gekommen war. Der Spürer, das Würmermaul, Teirashna, die Rennschnecken und Passwächter und wie sie alle hießen… und das schlimmste war, dass sie einen Teil von sich selbst an den Riss verloren hatte. Ein winziger Teil von ihr war nun ein Teil der Krankheit, der diese Welt zerstörte. Davon wusste Melanie nichts; niemand wusste es. Aber Nachtfrost würde es wissen, sobald sie ihm das nächste Mal begegnete.
Ich kann das nicht, dachte sie. Nicht noch einmal.
Melanie schrie. Das riesige Maul des Kenach schabte direkt über ihnen über den Felsen, und waren das etwa Funken, von den Zähnen geschlagen?
„Sonja, tu irgendwas!
„Ich kann nichts machen!”, schrie sie zurück.
„Ja toll, ich auch nicht!”
Der Kenach drehte ab, kam zurück und warf sich mit seinem gesamten Gewicht gegen den Felsen. Steine regneten auf Sonja herab. Sie riss die Arme über den Kopf, um sich zu schützen, und in dem Krachen hallte Melanies Schrei in ihr nach.
Ja toll, ich auch nicht!
Ja toll, ich…
Toll…
Toll…
Troll.
Troll!
Fast hätte sie das Wort geschrien. Wie konnte sie nur so dumm sein? Sie konnte weder mit dem Nebel noch mit dem Kenach reden, aber hier lag sie direkt unter einem Felsen, und vielleicht war das ein Troll! Wenn ja, dann war er vielleicht auch nicht so glücklich darüber, von einem Dämonenfisch angegriffen zu werden. Und vielleicht konnte er ihnen helfen!
Aber sofort meldete sich ihr Verstand. Der Felsen konnte kein Troll sein. Kein Wesen von Parva würde freiwillig in diesem giftigen Nebel bleiben. Sicher hatten alle Trolle das Weißmeer längst verlassen.
„Sonja!”, kreischte Melanie.
„Sei still! Ich versuche mit dem Felsen zu reden!”
„Mit dem – bist du – oh! Ein Troll? Ist es ein Troll?”
„Weiß nicht. Jetzt lass mich -”
„Schon gut, schon gut.” Melanie hielt tatsächlich den Mund, aber dann hörte Sonja mehrere Aufschläge von Stein auf Stein.
„Was machst du?”
„Ich werfe Steine weg, um ihn abzulenken.”
Aber der Kenach war nicht dumm und merkte sofort, dass dort keineswegs eine andere Beute darauf wartete, sich fressen zu lassen. Ein Schwung mit der Schwanzflosse trieb ihn ein paar Meter weg, der nächste trieb ihn zurück. Und nun versuchte er eine neue Taktik. Er schob das Maul ganz dicht an den Felsen, kaum einen Meter über der Stelle, an der Melanie lag, und schlug erneut heftig mit dem Schwanz, so dass der ganze riesige Körper wie ein Rammbock nach vorne stieß. Der Felsen schwankte, und der Kenach stieß gleich noch einmal zu, ermutigt durch seinen Erfolg. Sonja hatte nicht geglaubt, dass irgendein Wesen diesen Felsblock bewegen konnte, aber jetzt begriff sie, dass der Kenach ihn einfach wegrollen würde. Und dann waren sie ihm hilflos ausgeliefert wie ein paar Käfer, wenn man plötzlich eine Gehwegsplatte hochstemmte.
Sie schloss die Augen und horchte in die Dunkelheit. Das war nicht so einfach, während ihr Herz so laut schlug, dass man es vermutlich bis nach Chiarron hören konnte. Aber mittlerweile konnte sie mit ihrer seltsamen Gabe umgehen, auch wenn sie noch immer nicht wusste, warum ausgerechnet sie als Seelentauscherin geboren war und nicht jemand anderes. Doch darüber dachte sie jetzt nicht nach. Sie horchte in die Stille hinter dem Krachen und Knarren des Steins, suchte nach dem Frieden von Parva, den die Trolle wie kein anderes Volk verkörperten. Das Weißmeer war einst ein ganz normales Meer gewesen; Spuren davon mussten doch noch zu finden sein! Aber so sehr sie auch suchte, sie fand nichts. Das Schweigen im Nebel war nur Leere. Alle lebendigen Wesen dieses Meeres waren vor langer Zeit gestorben, geflohen oder von den Dämonen übernommen worden.
Vor Enttäuschung fing sie fast an zu weinen, doch dann riss sie sich zusammen. Jetzt war nicht der richtige Augenblick, um herumzuheulen. Sie tauchte noch tiefer in den Stein, suchte und suchte zwischen seltsamen Maserungen, eingeschlossenen Luftblasen, Fäden aus Metall, grobkörnigem Fels… dort war kein Bewusstsein, aber es war auch nicht nichts. Im Inneren des Steins war eine ganze Welt eingeschlossen, über Jahrmillionen zusammengepresst und miteinander verschmolzen. Es war auch nicht schwarz. Überall sah sie Farben: Bänder aus Gold und Ocker, graue Schlieren, schwarze Kanten, grüne und braune Einsprengsel und Edelsteine, deren Namen sie nicht kannte. Im Inneren des Steins herumzuwandern war so schön, dass sie beinahe vergaß, was sie hier eigentlich wollte. Doch ein heftiger Stoß erinnerte sie nur zu bald wieder an die Gefahr.
Der Felsen bewegte sich. Sonja spürte, wie er wankte und ein uraltes Gleichgewicht sich verschob. Der Kenach, der während des gesamten Angriffes bisher völlig still geblieben war, gab ein knarzendes Geräusch von sich wie eine Tür, die hundert Jahre lang nicht geöffnet worden war. Der nächste Stoß war viel stärker, und der Felsen geriet über Sonja und Melanie in Bewegung, hing einen entsetzlich langen Augenblick in der Schwebe und fiel dann mit einem Donnern zurück. Melanie stieß einen gellenden Schrei aus – „Mein Fuß! Mein Fuß!” -, und Sonja wurde von Wut und Entsetzen gepackt, dachte nicht mehr nach und schleuderte das gesamte Millionen Jahre alte Gewicht des toten Steins in das Bewusstsein des Kenach.
Das Monster stieß ein gurgelndes Dröhnen aus und krachte aus der Luft auf den Boden, als sei ein Gebirge über ihm eingestürzt. Sonja krabbelte zu Melanie hin, die heulend versuchte, ihr Bein aus einem Felsspalt zu befreien. „Melli! Melli, warte, ich helfe dir -”
„Es tut so weh”, schluchzte Melanie, „ich bin eingeklemmt –  das Vieh, wo ist das Vieh?”
Sonja warf einen Blick über die Schulter. In der Finsternis konnte sie den Kenach nicht sehen, aber ein Teil von ihr steckte noch immer in dem Felsen, und sie spürte, wie das gewaltige Gewicht das Ungeheuer auf den Boden drückte. Der Kenach schlug donnernd mit dem Schwanz auf den Boden, aber da das Gewicht nicht auf seinem Körper, sondern auf seinem Bewusstsein lastete, wusste er nicht, wie er es loswerden konnte. Sonja wunderte sich nicht einmal, wie ihr das gelungen war. „Der stört uns jetzt erst mal nicht mehr. Halt still, ich versuche -”
„Auuuuu!!!”
So hatte es keinen Sinn. Sonja kramte das Messer aus dem Rucksack. „Halt still! Ich versuche, den Boden unter deinem Bein zu lockern. Wir können -”
„Ich will hier weg”, schluchzte Melanie. „Ich hasse den Nebel! Ich hasse diesen bescheuerten König! Wir wollten doch helfen, verdammt nochmal!” Die letzten Worte gingen in einem heftigen Hustenanfall unter.
Und sie hatte Recht. Dieses neueste Abenteuer war von Anfang an eine Katastrophe gewesen. Alles war schiefgegangen, niemand hatte ihnen geholfen, und mit all ihren Mühen hatten sie überhaupt nichts erreicht. Sonjas Verstand murmelte, dass das nicht so ganz stimmte, aber sie weigerte sich, auf ihn zu hören. Am liebsten wäre sie einfach nach Hause zurückgereist, aber ohne die Spiegel und ohne Nachtfrost ging es nicht. Sie kratzte mit dem Messer zwischen Steinen und Erde herum, bis Melanie ihr Bein endlich ein wenig bewegen konnte. Herausziehen konnte sie es noch nicht, aber wenigstens lastete der Felsen jetzt nicht mehr darauf. Eine harte Kante hatte sich tief in die Haut gedrückt, und unter ihren tastenden Fingern spürte Sonja glitschiges Blut. Sie zog ihren Ersatzpullover aus der Tasche und wickelte ihn vorsichtig um das Bein. Danach saßen sie dicht beieinander an den Felsen gelehnt, starrten in die Finsternis und hörten zu, wie der Kenach immer noch gegen das schreckliche Gewicht kämpfte. Er tat Sonja jetzt sehr leid. Sie hatte einmal ein Bild von einem Wal gesehen, der an einen Strand getrieben und unter seinem eigenen Gewicht erstickt war. So ähnlich musste sich wohl auch dieses Tier jetzt fühlen.
„Was ist mit ihm?”, fragte Melanie. „Was hat der Troll mit ihm gemacht?”
Sonja erinnerte sich, dass sie es ja noch gar nicht erzählt hatte. „Das war kein Troll. Nur ein toter Felsen. Er …”, sie zögerte,  „hat ihn wohl irgendwie verletzt.”
„Wie kann ein toter Felsen ihn verletzen?” Offenbar hatten die Schmerzen Melanies Gehirn nicht beeinträchtigt. „Das kann doch nicht sein. Du warst das, oder? Was hast du gemacht?”
„Ich weiß nicht. Ich war wütend.”
„Wow”, sagte Melanie. „Erinnere mich daran, dich nicht wütend zu machen. Aber hättest du nicht wütend werden können, bevor er mir das Bein zerschmettert hat?”
„Es ist ein Kratzer! Und ich weiß nicht mehr genau, was passiert ist!” Das stimmte nicht, aber sie wollte wirklich nicht darüber reden. Offenbar hatte sie ihnen das Leben gerettet, aber je länger Sonja dem Kenach zuhörte, desto schlechter fühlte sie sich. Er hatte eigentlich nur Hunger gehabt. Ihr Mitleid ging nicht so weit, dass sie sich fressen lassen wollte, aber je länger die Nacht dauerte, desto deutlicher war, dass der Kenach sich nicht selbst befreien konnte. Irgendwann würden kleinere Dämonen kommen und ihn angreifen, und er würde sich nicht wehren können.
Wir konnten uns auch nicht wehren, flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf.
Doch, antwortete sie. Ich habe ihm einen Felsen ins Gehirn geworfen.
„Und was machen wir jetzt?”
„Warten, bis Eisfeder zurückkommt.” Etwas anderes konnten sie nicht tun. Also kuschelten sie sich frierend und hustend aneinander und sehnten sich nach ihren warmen Betten und einem Ende des Nebels.

Sie mussten wohl eingedöst sein, denn das nächste, was Sonja hörte, war das schönste Geräusch der Welt: Hufschlag ganz in ihrer Nähe. Sie fuhr hoch und schrie: „Nachtfrost!”
„Bist du übergeschnappt?”, fauchte Melanie, aber Sonja beachtete sie gar nicht. Wild starrte sie um sich, aber überall war nur lähmende neblige Dunkelheit. Doch dann wurde es in einiger Entfernung ein wenig heller. „Nachtfrost?”
Lauf nicht los, kam die vertraute dunkle Geiststimme, und sie hätte heulen können vor Erleichterung. Hier sind überall Löcher und Spalten im Boden.
Der Hufschlag kam näher, so ruhig und gelassen, als steckten sie nicht alle in einem Nebelmeer voller Dämonen und Monster, und dann erkannte Sonja das schimmernde Horn und die fedrige weiße Mähne und ein vertrautes Schnauben, und dann stand ihr Einhorn vor ihr, senkte den Kopf und stupste sie ganz leicht mit dem Maul an. Ich habe dich vermisst.
Sonja warf die Arme um seinen Hals und drückte sich ganz fest an ihn, und natürlich heulte sie nicht, sie war ja kein kleines Kind, und das nasse Zeug in ihrem Gesicht waren auch keine Tränen. Und der Kloß im Hals war ganz normal, und sie brauchte auch gar keine Stimme, um mit Nachtfrost zu sprechen. Warum bist du weggegangen? Warum hast du mich alleingelassen? Aber bevor er antworten konnte, fiel ihr etwas ein, und plötzlich war der Kloß im Hals weg. „Nachtfrost, Melanie ist verletzt! Ihr Bein ist eingeklemmt, und ich kriege sie nicht da raus -”
Wenn ich ihr helfen soll, musst du mich loslassen.
„Kommt nicht in Frage.”
Er schnaubte belustigt, und natürlich ließ sie ihn doch los, denn sie war ja kein Kind mehr. Und außerdem konnte sie sich dann unauffällig mit dem Ärmel über die Augen wischen und sich ebenso unauffällig die Nase putzen. Der große, schwarze, nach Einhorn riechende Schatten wandte sich ab und trottete zu Melanie hin. Er blieb stehen und schien zu lauschen, dann sagte er: Dieser Felsen ist tot, er kann sich nicht selbst bewegen. Ich werde mich dagegenlehnen, und du ziehst Melanie raus. Aber erst musst du den Kenach freilassen.
Der Kenach! Sonja hatte ihn ganz vergessen. Rasch drehte sie sich um und spähte in die Finsternis, aber dort war alles still. „Wo ist er denn?” Und plötzlich war ihr ganz schlecht vor Schreck. „Ist er … ist er tot?”
„Dann könntest du ihn doch nicht freilassen.” Bei allem Schmerz und Husten und aller Müdigkeit und Kälte schaffte Melanie es immer noch, klarer zu denken als sie.
Sonja knurrte bloß. „Wenn ich ihn freilasse, greift er uns doch an!”
Möglich, erwiderte Nachtfrost. Aber wenn du es nicht tust, stirbt er.
„Aha.” Eine böse kleine Stimme in ihr flüsterte: Dann wäre er wenigstens keine Bedrohung mehr, und sie erschrak vor sich selbst. Nachtfrost hatte Recht, sie konnte den Kenach nicht einfach hier sterben lassen! Sie hatte jetzt ohnehin ein schlechtes Gewissen, weil sie ihn die ganze Nacht hindurch auf den Boden gezwungen hatte. „Und wie mache ich das?”
Ruf das Gewicht zurück in den Felsen, wo es hingehört. Danach kann ich ihn bewegen.
Ruf das Gewicht zurück … Das Blöde an dieser ganzen Seelentauscherei war, dass niemand Sonja jemals erklärt hatte, wie man eigentlich damit umging. Nur Nachtfrost hatte ihr manchmal einen kurzen Hinweis gegeben, aber alle anderen waren mit dieser Gabe der Göttin genauso überfordert wie sie. Und hatte sie nun eigentlich die Seele des Felsens in den Kenach gezwungen? Was es das Gewicht, das einen Stein definierte? Und wenn der Stein tot war, wie konnte er dann noch eine Seele haben?
„Jetzt mach doch endlich! Das tut weh!”
Sonja zuckte zusammen. Rasch stopfte sie ihr schnodderiges Taschentuch in die Hosentasche und legte die Hände auf den eiskalten Stein. Und was jetzt? Ich habe keine Ahnung, dachte sie kläglich und horchte in die Dunkelheit.
Ich bin hier oder Hier bin ich und ähnliche Feststellungen halfen ihr jetzt nicht weiter. Ihr war schon klar, dass es jetzt nicht um sie ging, sondern nur um den Kenach und den Felsen. So, wie es auch in der Nacht nicht um sie gegangen war, sondern darum, Melanie zu retten. Sie hatte nicht darüber nachgedacht, wie großartig diese Gabe des Seelentausches war. Sie hatte nur Angst um Melanie gehabt. Jetzt hatte sie auch Angst – um sie beide. Wenn der Kenach sie nun wieder angriff? Er war halb Tier, halb Dämon, sie konnte nicht mit ihm reden. Und Nachtfrost konnte hier unten zwar offenbar überleben, aber vielleicht war er in diesem giftigen Geisternebel nicht so mächtig wie in Parva. Schließlich war die Welt selbst hier verwundet und krank. Der Kenach war ein Teil dieser Krankheit. Und Sonja erinnerte sich, dass schon einmal ein Dämon stärker gewesen war als ihr geliebtes Einhorn.
Melanie hatte Nachtfrost damals gerettet.
Hör auf zu denken, dachte sie. Tu es einfach. Wir schaffen das zusammen. Schlimmstenfalls mache ich das mit dem Felsen nochmal.
Tu es einfach…
Noch immer hatte sie die Augen geschlossen und die Hände auf dem kalten Stein. Und jetzt merkte sie, dass ihr alles wehtat. Jeder Muskel in ihrem Körper war verkrampft und verspannt. Vielleicht war es nur die Folge dieser schrecklichen Nacht in Kälte und Finsternis, vielleicht aber auch eine Folge des mindestens ebenso schrecklichen Zaubers, mit dem sie ihr Bewusstsein in die Leere des Steins gezwungen hatte.
Lass los, dachte sie. Er hat uns die ganze Nacht über beschützt, aber jetzt ist es genug. Er muss kein Troll sein, er muss nicht antworten, er muss einfach nur Stein sein.
Sie musste gar nicht in den Stein hineinhorchen. Sondern wieder in sich selbst.
Sie nahm die Hände von dem kalten Stein und rieb sie aneinander, um ein wenig Wärme zurückzubringen. Ihre Füße waren taub vor Kälte, ihre Schultern schmerzten, sie hatte Hunger und Durst, ihr Hals war rau und wund vom Husten und der giftigen Luft. Jetzt erst spürte sie all das wieder, und nun begriff sie auch, was das bedeutete..
Ich war der Stein. Die ganze Nacht.
Sie ließ los und spürte, wie das gesamte lastende Gewicht aus ihrem Kopf und aus dem des Kenach verschwand. Das riesige Tier löste sich vom Boden und schwebte ein paar Meter nach oben, dann hielt es an. Sekundenlang bewegte sich niemand, und Sonja brauchte den Seelentausch nicht, um zu spüren, wie wütend, hungrig und verwirrt das Tier war. Sie hielt den Atem an. Würde der Kenach sie angreifen? Um sich zu rächen?
Er stieß einen Laut aus, der wie ein fernes Grollen klang. Dann schnellte er sich herum und schoss mit einem gewaltigen Schwanzschlag in die Dunkelheit davon. Und jetzt sahen sie, dass die Dunkelheit nicht mehr schwarz war, sondern dunkelgrau. Der Tag kam. Die schreckliche Nacht war endlich vorbei.

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„Die zerbrochene Stadt“ ist jetzt bestellbar

„Die zerbrochene Stadt“ ist jetzt bestellbar

So, Band 3 ist fertig und kann hier im Shop für 12,50 € bestellt werden. 🙂 Es dauert dann ein bisschen, weil ich die Bücher erst bei Lulu ordern muss. Aber im allgemeinen gehen Druck und Versand dort recht zügig über die Bühne.

Ich drucke übrigens nur die „Einhornzauber“-Originalversionen nach, NICHT die Trilogie „Im Bann des Nebels“, in der ein paar Namen und Einzelheiten verändert wurden.

Für ganz Eilige gibt es das E-Book auf Amazon: Link

 

Zu den Covern: Ich war nie besonders glücklich mit den Glitzercovern von Kosmos, und für meine eigenen Bücher darf ich sie auch nicht verwenden. Deshalb habe ich eigene Cover erstellt, die die Bücher ein wenig aus dem Einhornfantasybereich rücken und mehr Richtung Abenteuer schieben. Ich weiß aber auch, dass das Einhorn auf dem Cover natürlich anziehender wirkt als ein komischer schwarzer Vogel oder eine Abenteuerszene. Falls also Interesse besteht, könnte ich versuchen, die Originalcover sozusagen nachzubauen (allerdings ohne Glitzerfolie). Schreibt es einfach in die Kommentare, wenn ihr das wollt. 🙂

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Magalis Rezension

Ich freue mich gerade mal wieder SEHR über die Rezension von Magali bei den Büchereulen.

Leider scheint die Mehrheit der Leserinnen derzeit auf jede nur denkbare Variante von „unbedarftes Mädchen verknallt sich in übernatürlichen Superhelden“ fixiert zu sein statt auf Abenteuerbücher. Da gehen meine Geschichten natürlich unter wie die Titanic. Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass irgendwo da draußen Leute sind, die das lesen wollen, was ich schreibe, und die es nur noch nicht gefunden haben. Und ein paar haben es ja gefunden. 🙂 Meine ersten fünfzehn Druckexemplare sind schon weg bzw. vorgemerkt.

 

Yay, fünfzehn Exemplare.

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