Inhalt:

In Parva herrscht Krieg. Die Nebeldämonen haben weite Teile des Landes in ihre Gewalt gebracht, und die freien Völker fliehen nach Westen. Um ihren Freunden zu helfen, muss Sonja mit Hilfe des magischen Amuletts den Wolfsgott wiedererwecken. Das Ritual zur Erweckung ist in einer alten Sprache überliefert, die nur jemand aus dem Volk der Enat übersetzen kann. Doch
die Enat sind ausgestorben…

1. Kapitel

Das Neujahrsrennen

Der schwarze Hengst galoppierte die Rennbahn entlang, dass der Schlamm unter seinen Hufen nur so spritzte. Die Nüstern waren weit gebläht, Mähne und Schweif flogen im Wind, die muskulösen Beine griffen weit aus. Der Jockey duckte sich tief auf seinen Rücken. Es war ein herrliches Bild voller Kraft und Anmut. Wie ein Pfeil flog der Hengst am Zielpfosten vorbei – als allerletzter Teilnehmer an diesem Rennen, fast fünf Längen hinter dem übrigen Feld.
„Na, frohes neues Jahr auch“, sagte der hagere Mann mit dem Pa­pageienprofil, der neben Sonja, Melanie und Benarvin stand und ih­nen während des gesamten Rennens mit seinen bissigen Kommen­taren auf die Nerven gegangen war. „Was für ein Anfänger reitet die­ses Biest? Den muss man doch richtig hart rannehmen, dann rennt er auch – nicht mal bloß ein bisschen mit der Gerte antippen. Aus dem könnte man ein Rennpferd machen – aber aus Stettenbach kommen ja eh fast nur Schnecken. Rennschnecken!“ Er lachte laut. Auch eini­ge der Pferdebesitzer in der Nähe lachten, andere schüttelten nur den Kopf und machten sich auf den Weg zum Führungsring, um sich um ihre Tiere und die Jockeys zu kümmern und dem Sieger zu gratulie­ren. Der Hakennasige knöpfte seine karierte Jacke zu und folgte ih­nen.
„Idiot!“, zischte Melanie hinter ihm her, aber zum Glück hörte er es nicht mehr. „Mach dir nichts draus, Sonja. Der hat doch keine Ah­nung!“
“Ich weiß“, sagte Sonja. Sie hatte dem Rennen bibbernd vor Kälte und atemlos vor Spannung zugesehen und sich heimlich, nur ein ganz kleines bisschen, gewünscht, dass der schwarze Hengst we­nigstens nicht als allerletzter durchs Ziel gehen würde – vielleicht als dritter oder vierter? Damit Leute wie dieser Typ mit der Haken­nase nicht ganz so schlecht über ihn redeten? Aber ihr Wunsch hatte sich nicht erfüllt. Und obwohl sie wusste, warum der Hengst nicht gewonnen hatte und auch nie ein Rennen gewinnen würde, tat es doch weh, den bösen Bemerkungen zuzuhören und nichts dagegen sagen zu dürfen.
„Vergesst den Kerl“, sagte Ben. „Kommt.“
Sie schoben sich durch die Menschenmenge hindurch. Winzige Schneekristalle rieselten aus dem grauen Himmel und setzten sich auf Mänteln und Mützen fest. Unter den Stiefeln hatte sich Gras in Matsch verwandelt und spritzte bei jedem Schritt hoch. Eigentlich hatten Sonja und Melanie sich für ihr erstes Neujahrsrennen auch richtigen Schnee gewünscht, aber pünktlich einen Tag vor Weih­nachten war das Wetter umgesprungen. Innerhalb weniger Stunden war der ganze Dezemberschnee weggetaut und hatte einem nasskal­ten Regen-Schnee-Geniesel Platz gemacht, das jetzt seit einer Woche anhielt. Es war überhaupt kein gutes Wetter für ein Rennen, und die richtige Saison fing ja auch erst Ende Mai an, aber Ben hatte gesagt, dass sie sich ‚Neros‘ Rennen ruhig einmal anschauen konnten.
Und obwohl ‚Nero‘ erwartungsgemäß verloren hatte und der Spott der Fachleute Sonja sehr ärgerte, genoss sie es doch aus ganzem Herzen, hier zu sein. Überall roch es nach Pferden, alle Leute waren entweder Pferdebesitzer oder Jockeys oder verstanden wenigstens etwas von Pferden, und sie und Melanie waren nicht nur bloße Zu­schauerinnen, sondern gehörten zu der geheimnisvollen, aufregen­den Welt hinter den Kulissen. Sie hatten das Rennen nicht von der Tribüne, sondern vom grünen Innenplatz der Rennbahn aus verfolgt, und niemand schien sich daran zu stören, dass hier zwei Dreizehn­jährige herumliefen und jedes der kostbaren Pferde streichelten, in dessen Nähe sie kamen. Tatsächlich fielen sie kaum auf – der dun­kelhäutige, schlanke Ben zog die Blicke schon eher auf sich.
Sie wichen einer großen Gruppe Menschen aus, die den Sieger und seinen Reiter zur Siegerehrung begleiteten. Das Pferd, eine braune Vollblutstute, war zwischen all den Leuten kaum zu sehen. Aber Sonja und Melanie war dieses Pferd ziemlich egal. Wichtig war nur Nachtfrost – das schwarze Einhorn mit der silbernen Mähne und dem silbernen Schweif, das aus einer anderen Welt stammte, schnel­ler als der Wind laufen konnte und nur hier in der Menschenwelt als schwarzer Hengst ‚Nero‘ ein Rennen nach dem anderen verlor. Im Führungsring sah er wie ein ganz normales Pferd aus: schwarz, ver­schwitzt und bis zum Bauch schlammverklebt. Peter Karz, sein Jockey, führte ihn im Ring herum, hielt ihn aber an, als er Ben und die beiden Mädchen entdeckte.
„Wurde auch Zeit“, knurrte er und warf Melanie die Zügel zu. „Hier! Schafft ihn mir aus den Augen! Ich sag Ihnen, Ben, das war’s für mich mit diesem Gaul! Ich mache mir ja meinen Ruf kaputt, wenn ich den weiter reite! Jeder Maulesel läuft besser! Wissen Sie eigentlich, was ich mir hier von den Kollegen anhören muss?“
„Schon gut“, sagte Ben beschwichtigend. „Ich überlege mir was. Wenn wir ihn mal bis ins Mittelfeld kommen lassen –“
„Ins Mittelfeld?“, schnaubte Karz. „Was zum Teufel soll ich im Mittelfeld? Dafür werde ich nicht bezahlt! Hören Sie, Ben, wenn ich nicht –“
„Augenblick“, unterbrach Ben und schaute Sonja und Melanie an. „Lasst ihn hier nicht in der Kälte stehen. Führt ihn ein bisschen her­um, ja?“
Sie nickten. Sonja nahm die Zügel, Ben half Melanie in den Sattel, und dann verließen die beiden Männer den Führungsring, um sich zu unterhalten. Sonja streichelte den glatten schwarzen Hals und schob ihre Hände unter die dichte Mähne, während sie ‚Nero‘ im Kreis führte. Brav wie ein Karrengaul trottete er hinter ihr her und schien sich nicht im geringsten unwohl zu fühlen.
„Muss es denn immer der allerletzte Platz sein?“, flüsterte sie in sein schwarzes Ohr und hoffte, dass Melanie es nicht hörte. Er schaute sie an, und sie hörte seine vertraute Stimme in ihrem Kopf. Vielleicht ändere ich es beim nächsten Rennen. Ist es dir so wichtig?
Sie presste die Lippen aufeinander.
Er schnaubte und streifte leicht ihre Hand mit seinem Maul. Lass sie doch lachen. Mir tut es nicht weh.
Aber mir
, dachte sie, sprach es aber nicht laut aus. Sie war immer eine Außenseiterin gewesen, ausgeschlossen und verspottet, und es war nicht leicht, über so etwas einfach hinwegzugehen. Auch nicht dann, wenn es nötig war, um Nachtfrosts Geheimnis zu bewahren. Ihm machte es nichts aus, aber es wäre schön – aber auch das sagte sie nicht laut –, zur Abwechslung mal nicht zu verlieren.
Er stupste sie leicht an. Du weißt doch, wer ich bin. Und ich weiß, wer du bist. Wir müssen niemandem etwas beweisen.
„Ich weiß“, murmelte sie.
„Was hat er gesagt?“, fragte Melanie.
„Dass wir niemandem etwas beweisen müssen“, sagte Sonja leise.
„Stimmt“, sagte Melanie fröhlich. „Immerhin sind wir die Heldin­nen von Parva, ey.“
Fast gegen ihren Willen musste Sonja lachen. „Ja, irgendwie schon.“
Na also, sagte Nachtfrost und trottete geduldig wie ein Zirkuspferd weiter im Kreis herum, während hundert Meter weiter die Leute ein ganz gewöhnliches Rennpferd feierten und nicht ahnten, dass sich ganz in ihrer Nähe ein echtes Einhorn aufhielt – ein Wanderer zwi­schen den Welten, ein Bote der Göttin Aruna und Sonjas allerbester Freund.
„He, ihr!“
Sie zuckten zusammen und schauten sich um. Am Zaun des Füh­rungsringes stand der unangenehme Mann in der Karojacke. „Ihr Mädchen da! Kommt mal her!“
Nachtfrost legte die Ohren flach an den Kopf. Sonja schaute sich nach Ben um, aber er war nirgends zu sehen.
„Seid ihr taub? Jetzt kommt schon her!“
Widerwillig gehorchten sie und stapften durch den Sand des Füh­rungsringes zu ihm hin.
Der Hakennasige musterte das schwarze, verdreckte Pferd und machte ein angewidertes Gesicht. „Stellt ihn mal gerade hin, ich will ihn mir ansehen.“
„Er soll nicht stehen“, antwortete Melanie trotzig. „Schließlich soll er sich nicht erkälten.“
„Du Rotznase, bildest du dir etwa ein, mehr Ahnung von Pferden zu haben als ich? Die paar Sekunden werden ihm nicht schaden.“ Er schaute ‚Nero‘ von oben bis unten an – von den funkelnden Augen und den flach angelegten Ohren bis zum peitschenden Schweif. „Habe ich es mir doch gedacht. Viel zu verspannt. Völlig steif im Rücken. Wird wohl nie ordentlich mit Kandare und Sporen geritten, was? Kein Wunder, dass er auf der Bahn läuft wie eine schwangere Kuh! Der Jockey taugt nichts, und der Besitzer ist ein Esel. Oder eine Eselin, was? Haha!“ Er lachte so plötzlich laut los, dass Nacht­frost scheute und Melanie fast aus dem Sattel rutschte. Der Mann achtete nicht darauf. „Er kommt doch von Gut Stettenbach, richtig?“
Sonja nickte nur, während sie Nachtfrosts Hals streichelte und sich sehnlichst wünschte, dieser ekelhafte Kerl möge verschwinden. Am besten durch ein bodenloses Loch im Erdboden.
„Ich sag’s ja immer, Frauen haben im Pferdesport nichts zu su­chen“, fuhr er abfällig fort. „Die verstehen einfach nichts von den Gäulen. Hart rannehmen muss man die, den Willen brechen! Dann laufen die auch!“
„Was ist hier los, Sonja?“ Wie aus dem Nichts stand plötzlich Ben neben dem Mann. „Führt ihn noch ein paar Runden herum und bringt ihn dann zum Wagen, ja?“
Sonja nickte erleichtert und führte Nachtfrost rasch weg. Bei den nächsten drei Runden achtete sie darauf, dem Mann nicht mehr zu nahe zu kommen. Da er sehr laut sprach, verstand sie aber trotzdem jedes Wort.
„Und wer sind Sie?“, fragte der Hakennasige Ben grob. „Versuchen Sie bloß nicht, mir einzureden, Sie wären Frau von Stetten und hät­ten hier was zu sagen. Das nehme ich Ihnen nämlich nicht ab.“
„Das können Sie halten, wie Sie wollen“, erwiderte Ben. „Ich ar­beite für Frau von Stetten und vertrete sie hier.“
„Ah“, sagte der Mann in abfälligem Ton. „Und wo ist Ihre Chefin? Macht sich wohl nicht mehr die Mühe, dem Gaul beim Verlieren zu­zusehen, was? Ich sag Ihnen was – machen Sie Wurst aus dem Vieh! Schicken Sie ihn in Rente! Oder verkaufen Sie ihn an jemanden, der was von Pferden versteht! Jemanden, der daraus noch etwas machen kann!“
„An Sie zum Beispiel?“
„An mich zum Beispiel. Ich biete Ihnen zweitausend. Und das ist noch viel zu viel.“
„Ich werde Frau von Stetten über Ihr Angebot informieren, sobald ich sie sehe“, antwortete Ben kühl.
„Tun Sie das. Und sorgen Sie dafür, dass sie einwilligt, klar? Bei dem Gaul juckt es mich in den Fingern – den will ich unterm Sattel haben! Dem bringe ich bei, wie man richtig rennt!“
„Wie heißen Sie?“, fragte Ben.
„Trischer. Josef Trischer. Wissen Sie was – ich schreibe Ihnen gleich hier einen Scheck aus und erspare Ihnen die Mühe, den Gaul selber abzutransportieren. Habe meinen Transporter immer dabei – für alle Fälle, haha!“
Sonja und Melanie zuckten entsetzt zusammen. Sie hatten dem Ge­spräch halb angewidert, halb belustigt zugehört, aber das ging ein­deutig zu weit! Zum Glück war Ben der gleichen Meinung. „Kommt nicht in Frage. Das Pferd ist nicht zu verkaufen.“
„Blödsinn!“, rief Trischer. „Jedes Pferd ist zu verkaufen! Na schön, ich lege noch einen Tausender drauf – als Extrascheck für Sie, in Ordnung?“ Schon zückte er sein Scheckheft und fing an, darin her­umzukritzeln.
Ben hatte sich schon halb abgewandt, aber jetzt drehte er sich wie­der zu ihm um. „Haben Sie mir nicht zugehört? Das Pferd ist nicht zu verkaufen! Und an Sie schon gar nicht. Ich kenne Sie nämlich, Herr Trischer. Vor zehn Jahren hat man Ihnen wegen Tierquälerei le­benslanges Platzverbot auf allen Rennbahnen des Landes erteilt. Ih­nen würden wir nicht einmal ein ausgestopftes Pferd verkaufen, ge­schweige denn ein lebendiges.“
Der hagere Mann lief dunkelrot an, schnappte nach Luft und schau­te sich hastig um, aber es waren keine Zuhörer mehr in der Nähe. Wutentbrannt starrte er Ben ins Gesicht und zischte: „Das werden wir ja sehen. Ich kriege den Gaul – und Sie können demnächst in Afrika wieder Kühe hüten! Solche wie Sie wollen wir hier nicht ha­ben!“ Ohne auf eine Antwort zu warten, packte er sein Scheckheft wieder ein, drehte sich um und ging weg.
Ben betrat den Führungsring und stapfte auf Sonja, Melanie und Nachtfrost zu. Er sah sehr ernst aus. „Tut mir wirklich leid“, sagte er. „Solche Szenen gab’s schon öfter, aber ich hatte eigentlich gehofft, ihr würdet sie bei eurem ersten Rennen nicht mitbekommen. Ist bei euch alles in Ordnung?“
„Geht so“, sagte Melanie. „Wer war dieser widerliche Typ?“
„Trischer? Vor vielen Jahren war er mal ein sehr bekannter Jockey. Aber dann geriet er in die Schlagzeilen, weil er seine Pferde miss­handelte, und wurde auf Lebenszeit gesperrt. Ich hatte keine Ah­nung, dass er heute hier sein würde. Und es macht mir ein wenig Sorgen, dass er wieder auf Pferdesuche ist.“
Sie erschauerten. „Kann er Nachtfr- Nero denn etwas tun?“, fragte Sonja beklommen. „Er kann dich doch nicht zwingen, ihn zu ver­kaufen!“
„Das nicht. Aber er könnte uns trotzdem Ärger machen.“ Ben schüttelte den Kopf. „Warten wir’s ab. So ganz schutzlos sind wir ja nicht, auch wenn ich meine kleinen Tricks nur sehr ungern einsetze. Kommt, wir fahren nach Hause. Mir ist kalt.“
‚Nero‘ trottete brav in den Pferdetransporter, Sonja und Melanie kletterten ins Führerhaus und schnallten sich auf dem Beifahrersitz an, und Ben fuhr vorsichtig los. Der Wagen rumpelte von der Renn­bahn und bog in die lange Straße ein, die zur Autobahn führte.
„Warum muss er überhaupt bei diesen Rennen mitmachen?“, fragte Sonja. „Warum kann er nicht einfach zu Hause bleiben? Dann würde doch auch niemand auf ihn aufmerksam.“
„Es war Asariés Idee“, erwiderte Ben. „Sie war der Meinung, dass kein Mensch sich für einen Verlierer interessieren würde. Aber all­mählich frage ich mich, ob nicht gerade das allmählich zu auffällig wird. Und da Peter sagt, dass er ihn nicht mehr reiten will, können wir ihn vielleicht wirklich mit einem anderen Reiter ein paar Plätze nach vorne bringen. Das wäre eine glaubhafte Änderung. Jeder weiß, dass ein Pferd den richtigen Reiter braucht, um eine anständi­ge Leistung zu bringen.“
„Und wer soll ihn reiten?“, fragte Melanie. „Außer Peter haben wir doch gar keinen Jockey!“
„Das überlege ich mir noch“, sagte Ben. „Wenn ihr Lust habt, könnt ihr es ja mal probieren.“
Entgeistert starrten sie ihn an. „Was?“, rief Sonja. „Aber wir sind doch keine Jockeys!“
Ben grinste, sodass seine Zähne in dem dunklen Gesicht aufblitz­ten. Am Anfang hatte Sonja ihn für einen Afrikaner gehalten, aber inzwischen wusste sie, dass er aus einem der geheimnisvollen Ost­länder in Nachtfrosts Welt Araun stammte. Er war ein ‚Beobachter‘ – jemand, der Informationen über die Nebeldämonen sammelte, die die magischen Länder von Araun bedrohten. Und er wusste alles über Sonjas und Melanies Abenteuer in Parva, dem Land, das im Krieg gegen die Dämonen lag. „Ihr seid aber auch nicht gerade schlecht. Ihr habt auf einem Ponyhof reiten gelernt – völlig ohne Hilfe, und die Biester, auf denen ihr gesessen habt, haben alles ver­sucht, um euch runterzuschmeißen. Wie oft haben sie es geschafft?“
„Tausendmal“, sagte Sonja.
„Zweitausendmal“, sagte Melanie. „Ich glaube, ich habe öfter im Dreck gelegen als auf Bjarnis Rücken gesessen. Aber das ist doch bestimmt nicht die Voraussetzung, um ein Rennpferd zu trainieren!“
„Für einen nervösen Spinner wie unseren Santana würde es nicht reichen, das stimmt. Aber wir reden hier schließlich von Nachtfrost. Außerdem – kreuz und quer durch ein gefährliches, unbekanntes Land zu galoppieren, ohne vernünftigen Sattel, Steigbügel oder Zaumzeug, und das ohne herunterzufallen, das soll euch erst einmal einer nachmachen. Natürlich fehlt euch eine vernünftige Ausbildung, aber das ist nicht das Problem. Kurz gesagt: ich biete euch an, euch zu unterrichten, und dafür helft ihr mir ein bisschen im Stall und ver­schafft Nero die Bewegung, die er braucht. Unsere Trainingsbahn ist groß genug, um ihm einen ordentlichen Auslauf zu bieten. Und nie­mand wird sich darüber wundern, dass ich unseren kreuzbraven Komplettversager dafür einsetze, junge Talente zu fördern. Dann hat er endlich etwas Vernünftiges zu tun.“ Ein weiterer Seitenblick und ein Lächeln. „Oder wollt ihr lieber wieder zur Reitschule Koch­mann?“
„Ganz bestimmt nicht“, sagte Melanie entschieden. „Also – wenn du das ernst meinst – du meinst das doch ernst, oder?“
„Ganz ernst“, versicherte Ben.
„– dann will ich das unbedingt! Das ist klasse! Endlich weg von diesen Reitstallzicken und dem ganzen Mist! Danke, Ben!“
„Und du, Sonja?“
Sie konnte nur nicken. Sprachlos und überwältigt.

Zuerst hatte sie Ben überhaupt nicht gemocht. Bei ihrer ersten Be­gegnung hatte er scherzhaft abfällig über ‚Nero, den Komplettversa­ger‘ gesprochen, und das hatte sie ihm lange Zeit nicht verzeihen können, weil sie nicht verstanden hatte, dass er Nachtfrost ebenso liebte wie sie und alles tun würde, um ihn vor der Neugier der Welt zu schützen. Außerdem hatte sie nicht gewusst, auf wessen Seite er stand. Er arbeitete als Stallmeister auf Gut Stettenbach, das der Zau­berin Asarié gehörte, und Asarié hatte Sonja verraten und versucht, ihr das magische Amulett wegzunehmen, das über den Ausgang des Krieges in Parva entscheiden konnte. Und weil Ben Sonja und ihre Freunde in die Zerbrochene Stadt Lyecenthe geschickt hatte, wo der Zauberin direkt in die Arme gelaufen waren, hatte sie geglaubt, er sei Asariés Komplize. Aber jetzt glaubte sie das nicht mehr. Sie hatte noch nicht so ganz verstanden, was die ‚Beobachter‘ genau waren, aber ‚Komplizen‘ waren sie ganz bestimmt nicht.
„Wir ziehen durch die Welt“, hatte Ben ihr gesagt, nachdem sie aus Lyecenthe zurückgekehrt war. „Wir beobachten den Nebel, die Dä­monen und die Völker, die gegen den Nebel kämpfen. Wir sammeln alle Informationen, die wir finden können – deshalb wusste ich auch, dass Lyecenthe irgendwie mit dem Wolfskopfamulett in Verbindung steht. Nur selten mischen wir uns ein, aber hin und wieder geben wir einen Rat oder Hinweis. Und wir beobachten sehr genau, was dies­seits und jenseits der Nebelbrücke passiert. Als Asarié sich hier häuslich niederließ, fand ich es nützlich, in der Nähe zu sein.“
„Wusstest du denn, dass Nachtfrost und Darian hier herkommen würden? Und dass Asarié uns betrügen würde?“
„Nein. Diese ganze Entwicklung hat mich überrascht. Ich weiß nicht, ob das alles noch zu Velerias Plan gehört oder nicht. Vielleicht gehört es zu einem größeren Plan, an dem auch sie nur einen gerin­gen Teil hat. Ich weiß nicht einmal, ob ich das Amulett richtig ver­stehe – zwischendurch hielt ich es ja für möglich, dass Asarié Recht hatte und es sich seinen Träger gar nicht selbst sucht, sondern ein­fach nur einem Gesetz folgt. Ich glaube auch nicht, dass sie ihren Verrat geplant hat. Erst als das Amulett plötzlich in ihrer Reichweite war, gab sie der Versuchung nach und wollte es für sich haben.“
„Es ist jetzt auch in deiner Reichweite“, hatte Sonja trotzig und ängstlich gesagt.
Und Ben hatte gelacht. „Ich weiß. Aber was soll ich damit anfan­gen? Außerhalb von Parva ist das Amulett nutzlos, es zieht seinen Sinn und seine Macht aus der Geschichte und der Magie des Landes. Und für mich ist Parva nur ein Land von vielen, durch die ich ge­wandert bin.“
„Das glaube ich nicht! Du bist doch höchstens dreißig oder so!“
Er grinste nur. „Doch, ich bin etwas älter. Man sieht es mir nur nicht so an.“
Während sie jetzt die Straße entlangfuhren und auf die Autobahn einbogen, schaute sie ihn von der Seite an. Vielleicht bekam man mit so dunkler Haut gar keine richtig grauen Haare. Und eigentlich war es egal, wie alt Ben war. Auf jeden Fall hatte er gerade bewiesen, auf wessen Seite er stand.
Sie würden ganz offiziell auf ‚Nero‘ reiten dürfen! Sie brauchten sich nicht mehr mit den Mädchen in der Reitschule Kochmann her­umärgern, die alle vom Springreiten träumten und jede für dumm hielten, die nicht für Herrn Kochmann schwärmte, bloß weil er mal ein Turnier gewonnen hatte. Sie konnten herkommen und sich um die Rennpferde kümmern und durften auch noch richtig reiten ler­nen! Damit, entschied Sonja, hatte Ben sich gerade einen Platz unter den nettesten Erwachsenen gesichert, die sie kannte.
Und während sie über die Autobahn rollten, lehnte sie sich zurück und träumte von dem Tag, an dem ‚Nero‘ als Vierter, Dritter oder so­gar Zweiter durchs Ziel ging und niemand, niemand mehr über ihn lachte.

***

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