Gestern erhielt ich folgendes Schreiben von Amazon:
Wir haben festgestellt, dass mindestens eines der von Ihnen veröffentlichten Bücher die KDP Select-Inhaltsrichtlinien nicht erfüllt. Bei KDP Select angemeldete Bücher im digitalen Format dürfen für die gesamte Dauer der Anmeldung nur exklusiv von Amazon angeboten werden.
Rabenzeit: Rebellen 1 (German Edition) (ASIN:B01N0WXJRB) ist unter folgender Adresse verfügbar: (link)
Damit alle Ihre Bücher bei im KDP Select-Programm bleiben können, müssen Sie innerhalb von fünf Tagen nach Erhalt dieser E-Mail sicherstellen, dass sie ausschließlich bei Amazon angeboten werden. Werden Ihre Bücher nach Ablauf der Frist von fünf Tagen noch immer nicht ausschließlich von Amazon angeboten, werden sie zwar weiterhin im Kindle-Shop zum Verkauf angeboten, jedoch aus KDP Select entfernt. Nach dem Entfernen sind Ihre Bücher nicht mehr für einen Anteil am KDP Select-Fonds berechtigt.
Beachten Sie, dass wiederholte Verletzungen der Anforderungen des Programms in Bezug auf die Exklusivität den Verlust der Vorteile von KDP Select zur Folge haben können, einschließlich der Teilnahme an Kindle Unlimited, der Kindle-Leihbücherei (KOLL) und der Nutzung von Kindle Countdown Deals oder kostenloser Werbetage. Um von den KDP Select-Vergünstigungen profitieren zu können, stellen Sie sicher, dass alle Ihre bei KDP Select angemeldeten Bücher zum Zeitpunkt der Anmeldung ausschließlich bei Amazon in digitalem Format verfügbar sind.
Also wollte ich RZ im epub-Format für Tolino wenigstens noch hier anbieten. Aber in den Richtlinien zu KDP Select steht:
Mit der Anmeldung Ihres Buches für KDP Select verpflichten Sie sich dazu, dieses Buch während der gesamten Laufzeit des Programms exklusiv über KDP anzubieten.
Alle bei KDP Select angemeldeten Inhalte dürfen nur über den Kindle-Shop erhältlich sein. Wenn die digitale Ausgabe Ihres Buches an anderer Stelle zur Vorbestellung, zum Verkauf oder kostenlos angeboten wird (z. B. auf Ihrer Website, Ihrem Blog oder der Website eines Dritten), ist es von der Teilnahme an KDP Select ausgeschlossen. Durch das Hinzufügen von neuen Inhalten (etwa Bonusinhalt, ein Kommentarteil des Autors usw.) zu einem Buch, das an anderer Stelle angeboten wird, werden die Exklusivitätsanforderungen nicht erfüllt. Weitere Informationen zu den Exklusivitätsanforderungen finden Sie in den allgemeinen Geschäftsbedingungen von KDP Select.
Im Klartext: das ist schlicht Erpressung. Kein Wunder, dass Tolino keine Chance hat, wenn Bücher nicht einmal in einem anderen Ebookformat angeboten werden dürfen. Andererseits hatte ich über Tolino im gesamten letzten Jahr genau elf Verkäufe, so dass sich das Anbieten für mich absolut nicht gelohnt hat. Deshalb habe ich RZ dort gelöscht. Auf Amazon verdiene ich zwar auch so gut wie nichts, aber doch ein bisschen mehr als bei Tolino.
Außerdem wurde Tolino laut einer Mitteilung in Buchreport.de an einen japanischen Ebookhersteller verkauft. Als „deutsche Alternative zum Kindle“ ist das Projekt damit meiner Meinung nach gescheitert.
Da ich nun ENDLICH weiß, wo ich in diesem Buch falsch abgebogen bin und wie ich es reparieren kann, kann ich auch das zweite Kapitel vorab einstellen. 🙂
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Konsequenzen
Philipp träumte vom Fliegen.
Das war nichts Neues; er hatte es getan, seit er zum ersten Mal ein Papierflugzeug aus dem Fenster geworfen hatte. Fliegen war sein großes Lebensziel, sein dringendster Wunsch, auf den er seit Jahren hinarbeitete und all sein Geld sparte. Allerdings war es meistens ein Tagtraum gewesen. Im Schlaf hatten ihn andere Träume heimgesucht: Abstürze, lähmende Schwere und jene seltsamen, fast schwerelosen Sprünge, die ihn doch immer wieder auf die Erde zurückzwangen. Nie hatte er im Traum in einem Flugzeug gesessen und zugesehen, wie die Welt unter ihm versank. Vielleicht lag es daran, dass die Sehnsucht so groß war, dass sein Unterbewusstsein davor zurückschreckte, sie in Traumbilder umzusetzen.
Aber jetzt war es anders. Jetzt wusste er, wie sich die Realität des Fliegens anfühlte. Und jetzt träumte er vom Fliegen – in einer qualvoll langen Nacht, allein mit der Angst, seinen Traum für immer zu verlieren. Für Sonja war er der große Bruder, der vor nichts Angst hatte, aber er war trotzdem erst neunzehn und wusste viele Dinge einfach nicht. Zum Beispiel, ob man überhaupt noch ein Flugzeug steuern durfte, wenn man einmal verdächtigt worden war, Komplize eines gefährlichen Mörders gewesen zu sein.
Darüber hatte er nicht nachgedacht, als er Ben nach Parva zurückgejagt hatte. Er hatte einfach gewusst, was er tun musste. Aber jetzt, nach der Begegnung mit der Polizei und dem Untersuchungsrichter, fielen all die Zweifel und Ängste über ihn her. In dieser Realität hatten Träume keinen Platz.
Der Traum endete mit dem Absturz, und Philipp schlug die Augen auf. Es war noch dunkel. Durch das Fenster sah er den Halbmond, der sich in dieser Nacht überhaupt nicht zu bewegen schien. Wahrscheinlich hatte Philipp nicht einmal eine Stunde geschlafen. Untersuchungshaft, hatten sie gesagt. Vorläufig festgenommen wegen des Verdachts auf Fluchthilfe. Aber wenn Sie sich weiterhin weigern, mit uns zusammenzuarbeiten, werden wir einen Haftbefehl beantragen.
Philipp wollte sich gar nicht weigern. Er hatte ihnen alles gesagt, was sie über ihn wissen wollten. Geschwiegen hatte er erst, als sich die Fragen auf Ben und Asarié bezogen. Wann und wo haben Sie Frau von Stetten zuletzt gesehen? Wo ist Herr Arvin?
Nicht, dass er keine Antworten gewusst hätte. Frau von Stetten habe ich zuletzt in einer Ruinenstadt in einer fremden Welt gesehen, als sie meiner Schwester ein magisches Amulett stehlen wollte. Sie wurde dort erst in einen Stein und dann in einen Baum verwandelt. Herr Arvin ist in der fremden Welt und sucht ein Einhorn.
Da hatte er doch lieber den Mund gehalten. Aber das bedeutete, dass er sich auch nicht verteidigen konnte. Denn er hatte ja genau das getan, was sie ihm vorwarfen: er hatte Ben „zur Flucht verholfen”. Nur war Ben eben kein Verbrecher, sondern vielleicht der einzige, der dieses ganze Chaos jetzt noch entwirren konnte.
Sie hatten ihn gehen lassen. Er durfte die Stadt nicht verlassen, musste ständig erreichbar sein und hatte seinen Eltern erklären müssen, was passiert war – nicht nur seine Verhaftung und Bens Flucht, sondern natürlich auch Sonjas und Melanies Verschwinden, von dem er bis dahin noch gar nichts gewusst hatte. Es war ein sehr unerfreuliches Abendessen gewesen, voller Vorwürfe, Wutausbrüche und endlich bleiernem Schweigen. Und es half ihm überhaupt nicht, dass er in der Stille die Stimmen der Geister in seinem Kopf hörte.
Mit diesen Stimmen hatte er allerdings rechnen müssen. Man konnte nicht ein Wesen töten, das Seelendieb hieß, und sich dann wundern, wenn all die befreiten und jetzt körperlosen Seelen sich sofort einen neuen Körper suchten. Wie ein Insektenschwarm summten sie jetzt in ihm herum – verwirrt, orientierungslos, verängstigt und zornig. Und wenigstens einer dieser Geister war nicht nur zornig – er war rasend vor Wut. Offenbar hatte Sishyal, der mächtige Jäger, der Seelendieb, niemals damit gerechnet, eines Tages selber seine Seele zu verlieren. Jetzt raste er herum und warf sich gegen die Mauern seines Gefängnisses, und dass er Philipp noch nicht völlig irre gemacht hatte, lag nur daran, dass ihn die anderen Geister genauso wütend verfolgten. Ob sie nun Rache nehmen, ihn als eine Art Leithammel betrachteten oder ihn einfach nur einschüchtern wollten, wusste Philipp nicht, aber er war dankbar dafür, dass sie ihn in Ruhe ließen.
Nach dem Abendessen waren die Eltern wieder zu Paul ins Krankenhaus gefahren. Corinna hatte sich an den Computer gesetzt und drei Stunden lang feindliche Aliens weggeballert. Das war ihre übliche Methode der Entspannung, allerdings hatte es heute fast zwei Stunden gedauert, bis sie endlich so entspannt war, dass sie die Lautstärke von „höllenlaut“ auf „nervig“ herunterdrehte. Philipp hatte nachgedacht, so gut es ging, und keiner seiner Gedankengänge hatte ihm gefallen, denn jeder einzelne endete in demselben Satz. Das muss aufhören.
Abenteuer in fremden Welten waren ja schön und gut, aber offenbar ging alles schief, sobald die Welten sich zu vermischen begannen. Ben und seine Leute hatten hier auf der Erde nach Magie gesucht – aber die Magie war ihnen aus Araun gefolgt. Ben hatte gesagt, dass sie sich hier nicht halten konnte, aber stimmte das wirklich? Wenn diese Magie vielleicht schon vor Hunderten von Jahren mit ihnen hergekommen war, konnte sie dann nicht eine Art Eigenleben entwickelt haben? Er hatte immer über Geister und Gespenster gelacht, aber jetzt gerade war ihm nicht mehr nach Lachen zumute. Eine verlorene Seele oder ein magisches Wesen aus Araun konnte auf der Erde verheerenden Schaden anrichten, wenn es nicht wie Ben fast völlig auf die Magie verzichtete, sondern sie zum Bösen verwendete.
So wie Sishyal.
Philipp wusste, dass nicht alle Seelen, die bei Sishyals Tod befreit worden waren, sich in ihm versammelt hatten. Einige waren weggeflogen, winzige verlorene Lichtfunken in einer gewaltigen, völlig fremden Welt. Was würde jetzt aus ihnen werden? Konnten sie überhaupt weiter… nun ja, „leben“ konnte man es nicht nennen. Weiterexistieren? Oder würden sie erlöschen wie Kerzenflammen? Vielleicht hatten sie sich alle schon längst aufgelöst und waren jetzt für immer fort. Zumindest war es das, was er hoffte, denn er hatte nicht die geringste Vorstellung, wie er verlorene Seelen einfangen und nach Parva zurückbringen konnte. Und damit hatte er das Problem noch gar nicht angesprochen, dass er nicht nach Parva gehen konnte, sondern hierbleiben und über die Nebelbrücke wachen musste.
Und es gab noch einen anderen, viel tiefergehenden Gedanken, der ihn bis zum Morgengrauen wachhielt und quälte.
Keiner der Geister in seinem Kopf war sein kleiner Bruder Paul. Und er wusste einfach nicht, ob das nun ein gutes Zeichen war … oder ein schlechtes.
Als draußen die ersten Vögel zu zwitschern begannen, schlief er ein und träumte davon, dass er in Sishyals Kopf gefangen war und mit ihm gemeinsam aus großer Höhe abstürzte. Und kein schwarzes Einhorn kam angaloppiert, um ihn zu retten.
Zwei Stunden später klingelte sein Wecker. Müde und zerschlagen quälte er sich aus dem Bett, hielt den Kopf unter Wasser und fuhr zur Arbeit. Er parkte sein Auto und betrat die Autowerkstatt, und dort trat ihm sein Kollege Martin ohne Gruß und ohne sein übliches Grinsen in den Weg. „Du sollst zum Chef kommen. Sofort.“
Philipp zog die Brauen hoch. „Morgen. Warum denn?“
Aber Martin antwortete nicht und drehte sich nur weg. Das sah ihm überhaupt nicht ähnlich. Stirnrunzelnd ging Philipp ins Büro. Dort saß die Sekretärin Janka, die ihn normalerweise ebenfalls anstrahlte, sobald er hereinkam. Heute schaute sie nicht einmal in seine Richtung, und da wusste er, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Mit einem sehr flauen Gefühl im Magen betrat er das Büro seines Chefs.
Friedhelm Walden stand am Fenster, die Hände auf dem Rücken verschränkt, und schaute hinaus. Er war ein dünner Mann Mitte Fünfzig, der Philipp vor drei Jahren nicht nur seine Vergehen gegen die Geschwindigkeitsbegrenzung verziehen, sondern ihm auch geholfen hatte, all die kleinen „Verbesserungen” an seinem Moped wieder abzuschrauben. Er hatte ihn bei seiner Begeisterung fürs Fliegen unterstützt und ihn ermuntert, sich für den Flugkurs am gerade vergangenen Osterwochenende anzumelden. Tatsächlich hatte er sich in den letzten Jahren viel mehr für Philipp interessiert als dessen eigener Vater.
Sein Büro war ein chaotisches Durcheinander aus Ordnern, losen Unterlagen, Werkzeugen und Fotos seiner Familie, während er gleichzeitig er auf absoluter Ordnung und Übersichtlichkeit unten in der Werkstatt bestand. Aber ebenso wie in der Werkstatt fand er auch hier jederzeit mit einem einzigen Griff alles, was er suchte.
Gewöhnlich fühlte Philipp sich hier ebenso wohl wie zu Hause. Er mochte das Chaos, er mochte den gutmütigen, pedantischen „Waldi”, und obwohl Automechaniker nicht gerade sein Traumberuf war, hatte er sich darauf eingerichtet, wenigstens die nächsten zehn Jahre hier zu verbringen. Aber als er jetzt das Büro betrat und Herr Walden sich zu ihm umdrehte, spürte er, wie etwas in Scherben ging. Einen solchen Blick hatte er im Gesicht seines Chefs noch nie gesehen, und da wusste er, was ihn erwartete. Nein, dachte er. Nein, nein, nein. Tu mir das nicht an.
Er bemühte sich, unbefangen zu sprechen, obwohl ihm plötzlich ein eisiger Kloß im Magen saß. „Morgen, Chef. Was gibt’s denn?“
Herr Walden zog die Brauen zusammen, schwieg noch einen Moment, als ob er nach Worten suchte. Dann sagte er: „Ich habe heute morgen die Zeitung gelesen, Herr Berger.“ Nicht: Philipp.
„Jaaaaa”, sagte Philipp. „Und?”
„Ich schlage vor, Sie fahren nach Hause und lesen sie ebenfalls.“
„Chef, mein Urlaub ist rum! Heute ist doch TÜV. Martin und ich wollten -“
„Herr Berger, Sie haben mich möglicherweise nicht richtig verstanden. Ich habe gesagt, fahren Sie nach Hause.“
Philipp starrte ihn an, und Herr Walden starrte zurück. „Chef, warten Sie -“
„Ich bin nicht länger Ihr Chef, Herr Berger. Ich kündige Ihnen fristlos. Holen Sie Ihre Sachen aus dem Spind und verlassen Sie mein Grundstück. Ihre Papiere schicke ich Ihnen per Post. Guten Tag.“
Er hatte es gewusst, aber die Worte trafen ihn trotzdem wie ein Schlag. Für einen Moment schrien hundert fremde Stimmen in seinem Kopf auf ihn ein, seine Knie wurden weich und er hielt sich am Türrahmen fest. „Chef -”, brachte er heraus. „Herr – Walden. Hören Sie mich -”
„Nein. Gehen Sie.”
„Bitte!”
„Nein! Raus!”
„Nein!”
Sie starrten einander an, und endlich brach die starre Maske des Mannes auf. „Philipp, verdammt nochmal! Wie konntest du so etwas tun?”
Philipp wurde es schwindlig vor Erleichterung Das war es, warum er weitere zehn Jahre hier arbeiten wollte: Mit „Waldi” konnte man reden und vielleicht noch etwas retten, aber er bewegte sich hier auf dünnem Eis. „Was habe ich denn getan? Was steht da in der Zeitung?”
„Reicht dir die Überschrift? Stadtbekannter Verkehrsrowdy verhilft mutmaßlichem Mörder zur Flucht – das hast du getan! Und du kommst hier rein und denkst, alles geht weiter wie bisher?”
„Wie bitte”, sagte Philipp. Mehr brachte er nicht heraus.
„Ja, wie bitte”, knurrte Herr Walden. „Normalerweise würde ich jetzt einen Witz über den stadtbekannten Verkehrsrowdy machen, aber das hier ist nicht zum Witzereißen. Ein mutmaßlicher Mörder? Und du hilfst ihm?”
„Okay”, sagte Philipp. „Moment. Geben Sie mir einen Augenblick Zeit.” Er holte tief Luft und versuchte, an dem Chaos in seinem Kopf vorbeizudenken. „Erst mal: Ben ist kein Mörder. Die Frau lebt, es geht ihr gut, sie ist in Schwierigkeiten, und Ben versucht, ihr zu helfen. Aber das kann er nicht, wenn er im Gefängnis sitzt. Deshalb habe ich ihm geholfen. Ich weiß, dass es verdächtig wirkt, und ich kann es nicht besser erklären. Aber es ist die Wahrheit.”
„Weil er es dir erzählt hat?”
„Nein, sondern weil ich dabei war.” Das stimmte nicht so ganz – er hatte Parva verlassen, bevor Asarié erst in einen Stein und dann in einen Baum verwandelt worden war. Aber kleine Details wie Einhörner, Magie, Göttinnen und fremde Welten ließ man besser aus, wenn man gerade mit seinem Chef um seine Zukunft feilschte.
„Und das hast du so auch der Polizei erzählt? Und warum überlasst ihr es nicht der Polizei, dieser Frau zu helfen? Was glaubt dieser Ben, was er besser kann als die Polizei? Und wie soll er es können, wenn er jetzt überall gesucht wird?” Himmel, dachte Philipp. Das waren genau die Fragen, die er nicht beantworten konnte, ohne im Irrenhaus zu landen. „Chef – glauben Sie mir, wenn ich Ihnen erzähle, dass es so etwas wie eine diplomatische Mission ist?”
„Nein”, sagte Herr Walden. „Ich weiß, dass du kein Lügner bist, aber das ist dann doch etwas zu dick aufgetragen.” Seien Sie doch froh, dass ich Ihnen nichts über Magie erzähle. Er warf einen Blick auf die Glastür zum Sekretariat und dachte einen verrückten Moment lang daran, seinem Chef – und Janka – zu zeigen, was er auch seiner Schwester Corinna einmal gezeigt hatte: dass er durch spiegelnde Oberflächen hindurchgreifen konnte. Aber am Ende zog er dann etwas heraus, das keine Melanie war. Und außerdem setzte Ben gerade sein Leben aufs Spiel, um die Magie vor den Menschen dieser Welt zu verbergen. Da konnte Philipp nicht einfach damit herumpfuschen, nur um seinen Job zu retten. Er blickte seinen Chef an und schüttelte den Kopf; mehr konnte er nicht tun.
„Philipp”, sagte Herr Walden, „es tut mir Leid. Ich glaube dir, dass die Dinge nicht so sind, wie sie in der Zeitung stehen. Und es tut mir sehr Leid, dich zu verlieren. Aber hier steht der Ruf meiner Werkstatt auf dem Spiel. Ich kann mir nicht leisten, mit so einer Sache in Verbindung gebracht zu werden, solange sie nicht zufriedenstellend aufgeklärt ist. Vielleicht geht das alles ja gut aus. Dann können wir …” Er unterbrach sich, überlegte und hob dann die Schultern. „Ich weiß nicht. Warten wir es ab.”
„Können Sie mir nicht einfach zwei Wochen unbezahlten Urlaub geben? Ich bin sicher, dass wir bis dahin -”
„Nein, Philipp. Wie gesagt – es tut mir Leid.”
Es war vorbei. Er gab auf. „Bekomme ich wenigstens ein Zeugnis?”
„Ja, natürlich. Und ich schreibe nichts über die Kündigung. Aufhebung des Arbeitsverhältnisses in beiderseitigem Einverständnis. Das ist alles, was ich tun kann. Damit kannst du dich … anderswo bewerben.”
„Danke”, sagte Philipp. Es war wenig genug, aber zumindest ließ es ihm die Tür einen Spalt weit offen. Aber es änderte nichts daran, dass sein Leben gerade restlos in Scherben gegangen war. Mit allem hatte er gerechnet, aber nicht damit, dass dieses verrückte und gefährliche Ponyhofabenteuer seine Zukunft zerstören würde. „Dann gehe ich jetzt.”
„Ja”, sagte Herr Walden. „Und … viel Glück.”
„Mhm.”
Auf den Händedruck verzichteten sie beide. Philipp verließ das Büro. Janka ignorierte ihn, und Martin steckte mit dem Kopf im Motorraum eines Autos und blickte nicht hoch, als Philipp die Werkhalle durchquerte, seinen Spind ausräumte und hinausging.
Komischerweise schien draußen die Sonne. Der Himmel war strahlend blau und wolkenlos. Vögel sangen, Kinder spielten, Leute gingen einkaufen. Die Welt hatte nicht aufgehört, sich zu drehen, nur weil Philipp Berger seinen Job verloren hatte. Alles ging einfach weiter, und es gab noch nicht mal eine dramatische Begleitmusik. Philipp entsorgte seine blaue Latzhose, seine lustigen Spindbilder und seine Arbeitsschuhe im nächstbesten Mülleimer, stieg in sein klappriges rotes Auto und fuhr nach Hause.
Wenn ihn jetzt jemand gefragt hätte, wie er sich fühlte, hätte er keine Antwort gewusst. Er fühlte gar nichts. Eine betäubte Leere – nein, nicht einmal das, weil die Geister in seinem Kopf herumtobten. Das war allerdings kein Gefühl, sondern eher ein nerviges Hintergrundgeräusch. Ein Ohrwurm aus unverständlichen Worten, fremdartigen Klängen und dem Winseln und Heulen von Wesen, über die er nichts wusste. Irgendwann würde er sich damit befassen müssen, aber nicht jetzt. Zuerst musste er sich arbeitssuchend melden, Versicherungen und Verwaltungskram erledigen, mit seinen Eltern reden, Bewerbungen schreiben … all die öden, unerfreulichen Dinge, von denen jetzt seine Zukunft abhing. Und es hatte ohnehin keinen Sinn, über Parva nachzudenken. Das war Sonjas Welt, nicht seine. Damit belog er sich natürlich selbst – er steckte schon viel zu tief mit drin. Aber welchen Sinn hatte Neugier, wenn er all diese fremden Wesen und die fremde Welt doch nie mehr sehen würde, weil der Zauber der Nebelbrücke ihn hier fesselte? Um die Geister wieder loszuwerden, brauchte er Ben und dessen Magie. Bis Ben zurückkam, konnte er überhaupt nichts daran ändern, dass ein Geisterchor in seinem Kopf herumheulte.
Er parkte am Straßenrand, stieg aus und schloss den Wagen ab. Vielleicht würde er das Auto verkaufen müssen, obwohl er es doch erst ein paar Monate besaß. Er wollte nicht darüber nachdenken. Er machte sich auf den Weg zur Haustür und blieb abrupt stehen.
Dort stand eine dürre alte Frau in einem Gewand aus übereinandergeworfenen Lumpen, die früher einmal weiß gewesen waren. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt und starrte Philipp mit finsterem Blick und fest aufeinandergepressten Lippen entgegen. Auf ihrer Schulter krallte sich eine zerzauste Krähe fest.
Unwillkürlich blickte Philipp sich um, aber es gab kein Entkommen. Die Alte stand so vor der Tür, dass er sich an ihr hätte vorbeizwängen müssen, um ins Haus zu kommen. Und er war ganz sicher, dass er ihr nicht einmal auf zwanzig Meter nahekommen wollte – nicht nur wegen des durchdringenden Modergeruchs, den der Wind zu ihm hinwehte. Aber weglaufen wollte er auch nicht. Also biss er die Zähne zusammen und ging auf sie zu. In drei Metern Entfernung blieb er stehen und sagte: „Hallo, Idore. Ich dachte, Sie sind in Parva.”
„Und ich dachte, der Alte hätte dir wenigstens ein bisschen Verstand eingebläut”, giftete die Hexe zurück. „Was hast du dir dabei gedacht, den Seelendieb totzuschlagen?”
„Habe ich nicht getan”, sagte Philipp. „Welcher Alte?”
„Der alte Meister, verflucht soll er sein! Der Brückenbauer.”
„Ben?”
Idore funkelte ihn böse an. „Wie offensichtlich muss das denn noch sein? Und womit hat er hier eigentlich seine Zeit verschwendet, wenn nicht damit, euch beizubringen, dass man in dieser toten Welt keine Geister freisetzt?”
Philipps Wangen wurden heiß. „Erstens ist unsere Welt nicht tot. Und falls Sie zweitens auf Sishyal anspielen, hätten Sie vielleicht verhindern können, dass er hier herüberkommt! Wenn er uns nicht angegriffen hätte, wäre das alles nicht pass-” Er stutzte. „Woher wissen Sie das überhaupt?”
„Dummkopf! Jahrtausendelang habe ich darüber gewacht, dass kein Unbefugter zwischen den Welten herumspringt, und da glaubst du, ich merke es nicht, wenn Sishyal mit seinen Opfern wie eine Feuerwolke durch die Dunkelheit rast? Wie, glaubst du, habe ich dich gefunden? Du bist jetzt Sishyal! Du leuchtest wie ein Warnfeuer auf den Bergen.” Wütend starrte sie ihn an. „Du kommst mit mir.”
„Was?” Erschrocken und überrumpelt trat er einen Schritt zurück. „Wohin?”
„An den einzigen Ort, an dem ich dich und die Geister wieder trennen kann.”
„Und welcher Ort ist das?” Einen verrückten Augenblick lang dachte er an den Waldhof, dann an Gut Stettenbach. Und einen weiteren Moment lang war er Idore grenzenlos dankbar, dass sie ihm helfen wollte. Aber dann schrillten in seinem Kopf sämtliche Alarmglocken los. „Nein! Warten Sie! Ich kann nicht nach Parva! Die Neb-”
„Halt den Mund!”, fauchte die alte Frau und packte sein Handgelenk in einem eisenharten Griff. Philipp wollte sich losreißen, aber der Griff war fest wie ein Schraubstock. Und als er den Mund öffnete, um sie anzubrüllen, kam kein einziger Ton heraus. Sie hatte ihn verhext! Er wehrte sich verzweifelt, aber da stieß die Krähe einen seltsam klagenden Laut aus, der überhaupt nicht wie ein Krächzen klang, sondern eher wie ein Flötenton. Süß, traurig, lockend … er schaute zu ihr hin, und als ihre Blicke einander begegneten, wurde es dunkel um ihn.
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