Willkommen in Neth Iriasuna, der Halle der Schriften von Shyar. Hier findest du das Wissen der Irianari – der Schreiber – über unsere Welt, die wir Araun nennen. Über viele Jahre und Jahrzehnte haben wir zusammengetragen, was wir über die Länder und Kontinente, Vergangenheit und Zukunft von Araun finden konnten. Und wir wissen jetzt, dass die vielen tausend Jahre der Besiedelung und Kultur dem Ende zugehen. Der tödliche Nebel aus den Schluchten der Welt hat schon ganze Länder entvölkert und vergiftet. Immer stärker werden die Erdbeben und Flutwellen, die schon Sarath und Taishon vernichtet haben, und es ist nur noch eine Frage von Jahrhunderten, bis Alteande und Irianar ebenso untergehen und die Welt zerbricht.
Wir, die wir den Anfang erlebt haben, erwarten nun das Ende. Die jungen Völker weigern sich, das Schicksal anzuerkennen, und suchen nach Möglichkeiten, Araun zu verlassen, und einige von uns werden mit ihnen gehen, aber viele werden bleiben und der sterbenden alten Welt in die Stille folgen…
… und so weiter und so fort. Es gibt Tage, an denen mich die Schicksalsergebenheit der Alten in den Wahnsinn treibt, und heute ist einer davon. Ich persönlich habe nicht die Absicht, der sterbenden alten Welt irgendwohin zu folgen. Ich will weg von hier, und zwar so schnell wie möglich. Deshalb unterstütze ich die Forscher, die auf ganz Araun nach Fluchtmöglichkeiten suchen, und werde hier den einen oder anderen Bericht zwischen die ehrwürdigen Schriften schmuggeln, damit ich bei der Archivierung nicht vor Weltschmerz eingehe.
Vielleicht sollte ich mich erst einmal vorstellen. Ich bin Athol Dan Angeri, eine der wenigen Irianari, die noch kein ganzes Jahrtausend lang senil sind. Meine Aufgabe ist es, die ständig eintrudelnden Berichte abzuheften. Nicht etwa zu sichten, zu sortieren oder gar zu kommentieren. Man erwartet von mir, daß ich eine Schriftrolle nach der anderen entrolle und in die großen Lederbände der Schriftenhalle einklebe. Lesen soll ich dabei natürlich auch nicht.
Ich tue es trotzdem, auch wenn mich depressives Geschwafel wie da oben manchmal wünschen lässt, ich wäre in meinem Tal geblieben und hätte nie lesen und schreiben gelernt.
Was der ehrwürdige Meister anzudeuten versucht, ohne es tatsächlich zu sagen, ist, dass Gorodhûn an allem schuld ist. Der verfluchte Brocken fiel eines Tages vom Himmel und zertrümmerte erst Sarath und später Taishon. Die großen alten Kulturen wurden von jetzt auf gleich ausgelöscht, und seither schaukelt der Brocken in seinem Loch im Meer herum und versucht, auch den Rest der Welt zu überfluten. Und im Moment sieht es so aus, als würde er das schaffen.
Aber ohne mich. Es gibt Gerüchte über ein Weltentor – irgendwo. Und es gibt Leute, die allen Ernstes davon sprechen, sich selbst in kleinen metallenen Kapseln in den Weltraum zu sprengen. Andere wollen fliegen lernen. Andere, die schon fliegen können, üben jetzt, ohne Luft, ohne Schwerkraft und in mörderischer Kälte zu überleben. Andere wieder versuchen, die Drachen abzurichten, zu überreden oder zu zwingen. Aber ganz gleich, welcher Ausweg gefunden wird: ich werde eine der ersten sein, die von hier verschwinden. Tschüs, Araun.
Athol