Inhalt:

Das magische Amulett wurde gestohlen. Sonja, Melanie und Nachtfrost, das schwarze Einhorn, machen sich auf den Weg zur Zerbrochenen Stadt, um es zurückzuholen.

1. Kapitel

Ein seltsamer Geruch

„Im Arbeitstempo Teeerab!”
Ohne auf die Unterstützung ihrer Reiterinnen zu warten, fielen die sieben Pferde der Reitschule Kochmann in einen stuckernden Trab und zockelten an der Hallenwand entlang.
„Leichttraben! Auf dem Zirkel geritten!”
Das Leichttraben gelang beinahe allen. Der Zirkel wurde eher ein Ei.
„Durch die ganze Bahn wechseln! Ganze Bahn! Erster Reiter anga­loppieren – Herrgott, Sonja, langsam! Du bist hier nicht auf der Rennbahn! Sitz gerade! Schultern zurück! Hacken runter! Hat man so was schon gesehen – wie ein Affe auf dem Schleifstein! Wer hat dir eigentlich gesagt, du könntest reiten? Ecke ausreiten, lass ihm das nicht durchgehen! Sonja Teeeerab, Volte! Noch eine! Hände runter! Ich geb’s auf, du bist ein hoffnungsloser Fall. Häng dich hinten dran. Melanie, angaloppieren – ist das zu fassen, du sitzt ja genauso krumm da! Habt ihr euch abgesprochen? Und auf welcher Hand ga­loppierst du da eigentlich? Hältst du das etwa für Reiten, was du da machst?”
„Eher für ausgeprägten Masochismus”, sagte Melanie wütend. Al­lerdings sagte sie das nicht zu Herrn Kochmann in der Reithalle, son­dern nach der Reitstunde zu ihrer besten Freundin Sonja, als sie die Sättel in die Sattelkammer brachten. „Dieser Kochmann ist ein Sa­dist! Warum tun wir uns das eigentlich an?”
„Weil es die einzige Reitschule in der Umgebung ist, die keine zwanzig Euro pro Stunde kostet”, sagte Sonja. „Wenn du lieber nach Vierlinden gehen willst -”
„Ja klar, unbedingt”, sagte Melanie ironisch. „Da dürfte ich ja nicht mal mein Pferd selber putzen, weil sie für alles irgendwelche Anges­tellten haben, und von morgens bis abends kriegt man nur zu hö­ren, wie unglaublich toll Vierlinden ist. Weißt du was? Ich will zu­rück auf den Waldhof, da hat uns wenigstens keiner angeschrien.”
„Naja, doch. Herr Frickel konnte uns auch nicht leiden.”
„Aber er hat uns in Ruhe gelassen.” Melanie wuchtete den Sattel auf einen Sattelbaum. „Und er hat uns auch nicht dauernd gesagt, wie schlecht wir reiten.”
„Immerhin bleiben wir oben. Vera ist beim Antraben schon wieder fast runtergefallen.”
Melanie kicherte. „Das wäre ja noch schöner, wenn du nicht oben bleiben würdest – nachdem du ohne Sattel auf einem wilden Einhorn durchs Gebirge galoppiert bist! Vielleicht sollten wir das dem wichti­gen Herrn Kochmann mal sagen!”
„Dem sag ich gar nichts.” Sonja wandte sich ab, wusch die Trense aus und hängte sie an einen Haken. Sie hoffte, dass Melanie den stummen Hinweis verstand und das Einhorn nicht mehr erwähnte, aber Melanie war mal wieder so sensibel wie eine Dampfwalze und redete weiter. „Ich stelle mir gerade vor, wie du mit Nachtfrost hier auf den Hof reitest. Natürlich in seiner echten Gestalt – riesengroß und schwarz, Mähne und Schweif aus reinem Silber, und den ganzen dummen Gänsen und Herrn Wichtigtuer Kochmann fällt das Kinn bis auf den Fußboden. Und ich auf einem von Asariés Vollblütern. Und danach reiten wir nach Vierlinden und -”
„Hör auf.”
„Was?” Melanie kicherte. „Ist doch lustig, oder nicht? Die würden vielleicht Augen machen!”
„Hör auf”, sagte Sonja noch einmal, und erst da merkte Melanie, dass etwas nicht stimmte. Betroffen schaute sie die Freundin an. „Was ist denn? Heulst du?”
„Quatsch.” Wütend wischte Sonja sich über die Augen.
Melanie legte ihr den Arm um die Schultern. „Ist es wegen Nacht­frost? Er kommt doch bald zurück – auf jeden Fall noch vor Weih­nachten.”
„Bist du sicher?”
Melanie zögerte. „Ja, irgendwie schon. Es fühlt sich irgendwie so an. Vielleicht ist es die – die Nebelbrücke. Du weißt schon.”
Sonja zog nur die Nase hoch und wischte sie am Ärmel ab – der war schon so dreckig, dass es nichts mehr ausmachte. Vor sechs Wo­chen, im Oktober, waren sie und Melanie unversehens in das größte Abenteuer ihres Lebens gestolpert. Sonja hatte im Wald ein verletz­tes Pferd entdeckt, das sich als waschechtes Einhorn entpuppte und sie durch einen mächtigen Zauber – die Nebelbrücke – in ein fremdes Land namens Parva brachte. Dort hatte sie ein seltsames Amulett in Form eines Wolfskopfes gefunden, das der Spürer, ein Mann mit finsteren und undurchschaubaren Absichten, ihr wieder abzunehmen versucht hatte. Noch immer wusste sie nicht viel über dieses Amu­lett. Sie wusste nur, dass seine Zauberkräfte über den Ausgang des Krieges entscheiden konnten, der in Parva tobte.
Sonja war gejagt und gefangen worden, hatte unerwartete Freunde und Verbündete gefunden und war schließlich mit Nachtfrost, dem schwarzen Einhorn, nach Hause zurückgekehrt. Und dort hatte Mela­nie sich währenddessen mit Sonjas großem Bruder Philipp und ei­nem fremden Jungen namens Darian angefreundet. Darian von Chi­arron, Prinz von Parva, war der eigentliche Träger des Amuletts, aber selt­samerweise konnte er es nicht mehr berühren. Nur Sonja konnte es noch anfassen, und so war sie wieder nach Parva aufgebrochen, um es seinen rechtmäßigen Besitzern, dem König und der Königin, zu übergeben. Allerdings war ihr das nicht gelungen, da die beiden spur­los verschwunden waren. Melanie und Darian waren ihr gefolgt und dabei von zwei Hexen gefangen worden. Sie hatten sich nur ret­ten können, indem Melanie von den Hexen eine Aufgabe übernom­men hatte, von der sie gar nicht richtig wusste, was sie bedeutete: sie war jetzt eine Wächterin der Nebelbrücke. Genau wie Ganna, eine weise alte Nomadin aus Parva, und Asarié, die unter dem Namen Waltraud von Stetten eine Vollblutzucht zwölf Kilometer von Sonjas und Me­lanies Heimatort führte. Asarié war zu Ganna gereist, um sich mit ihr über die Zukunft zu beraten, und Nachtfrost war nach Parva zurück­gekehrt, nachdem er Sonja und Melanie sicher nach Hause gebracht hatte.
Sonja wusste, dass sie ihn irgendwann wiedersehen würde – nur wann? Sechs Wochen waren eine schrecklich lange Zeit, wenn man wartete und wartete und alles andere daneben an Bedeutung verlor. Melanie hatte sie wenigstens überredet, sich mit ihr gemeinsam in der Reitschule Kochmann anzumelden, aber an Tagen wie heute glaubte Sonja nicht mehr, dass das eine gute Idee gewesen war. Sie und Melanie konnten reiten – zumindest konnten sie sich mit und ohne Sattel auf einem Pferderücken halten und ein Pferd dazu brin­gen, dass es tat, was sie wollten. Aber in jeder Reitstunde kritisierte Herr Kochmann gnadenlos Sitz, Haltung, Hilfen und überhaupt alles, bis das Reiten ihnen nicht mehr den geringsten Spaß machte. Und wie in jedem Reitstall gab es natürlich auch „Papas Lieblinge” – eine Gruppe von Mädchen, die von Herrn Kochmann aus welchen Grün­den auch immer bevorzugt wurden und deshalb glaubten, die Neuen ungestraft wegen jeder Kleinigkeit verspotten zu können. Nur die Liebe zu den Pferden hatte Sonja und Melanie davon abgehalten, hier schon nach zwei Wochen alles hinzuschmeißen. Irgendwo mussten sie schließlich reiten – ein Leben ohne Pferde konnten und wollten sie sich beide nicht vorstellen.
Sie verließen die Sattelkammer und überquerten den Hof, der schon wieder von einer dünnen Schneedecke überzogen war. Ein kalter Wind blies ihnen ins Gesicht. Sie zogen die Schultern hoch und be­eilten sich, in den warmen Stall zurückzukommen.
Als sie gerade die hohe, schwere Schiebetür aufzogen, schaute Me­lanie sich plötzlich um und runzelte die Stirn.
„Was ist?” Sonja drehte sich ebenfalls um, sah aber nur den Hof mit seinen drei Ställen und dem Wohnhaus.
„Der Geruch”, erwiderte Melanie. „Riechst du das auch?”
Sonja schnupperte. Sie roch Schnee, Pferde, Heu … und noch etwas anderes. Es war ein unangenehmer, fauliger Geruch, der nicht hierher gehörte. „Das ist ja ekelhaft. Wo kommt das her?”
Sie schauten sich um, hoben die Nasen in den Wind wie witternde Hunde.
„Ich hab’ das in den letzten Tagen schon öfter gerochen”, sagte Me­lanie. „Sogar zu Hause.”
„Vielleicht hat ein Bauer Jauche auf’s Feld gekippt, und bei dem Ostwind -”
„Mitten im Winter?”
„Hm, stimmt.” Sonja schaute sich auf dem leeren Hof um. Da war niemand … und sie wusste selbst nicht, was sie an dem Geruch so un­angenehm fand, dass er ihr plötzlich Angst einjagte. Es war einfach irgendein Gestank, sonst nichts, und es war absolut lächerlich, sich auf dem Reithof Kochmann vor etwas Unheimlichen zu fürchten. Aber trotzdem fühlte sie, wie sie eine Gänsehaut bekam. Irgend et­was war da draußen in der Dunkelheit.
Und es beobachtete sie.
Blödsinn! Sie sah Gespenster, weil sie die ganze Zeit darauf wartete und horchte, dass Nachtfrost zurückkam! Sie war einfach überemp­findlich, das war alles!
„Da ist bestimmt nichts”, sagte sie laut. „Lass uns reingehen.”
Sie schlüpften hinein und zogen die Tür fest hinter sich zu.

Im Stall war es warm, staubig und gemütlich, und während Sonja und Melanie Pferdeäpfel in eine Schubkarre schaufelten, Heu verteil­ten und ihre Pferde putzten, vergaßen sie den seltsamen Geruch. Herr Kochmann besaß sieben Pferde, die er auf zwanzig Mädchen verteil­te, und jeden Donnerstagnachmittag von zwei bis sechs war Sonja für den Hannoveranerfuchs Pedro und Melanie für die braune Holstei­nerstute Katinka verantwortlich. Pedro war fett und faul, Katinka knochig und zickig, aber da die beiden Mädchen so etwas schon von den Ponys vom Waldhof kannten, machte es ihnen nichts aus. Sonja wusste, dass sie sich hier trotz der Hänseleien der anderen Mädchen und der Grobheit des Reitlehrers wohlgefühlt hätte, wenn nicht … ja, wenn sie nicht noch vor ein paar Wochen auf einem Einhorn durch eine fremde Welt geritten wäre. Gegen diesen Zauber verblasste alles andere.
Um sechs verabschiedeten sie sich von den Pferden und zogen ihre Handschuhe und Winterjacken an. Die anderen Mädchen beachteten sie nicht, als sie zur Tür gingen, und unterhielten sich auf der Stall­gasse weiter über Turniere. Melanie und Sonja schoben die Stalltür auf. „Tür zu!”, schrie Vera ihnen nach; das war der einzige Ab­schied.
Draußen fiel der Schnee in dicken Flocken, es war dunkel und kalt. Im Licht der Stalllaterne wirkte der verschneite Hof still und fried­lich. Aber der Geruch hing noch immer in der Luft.
Ein kurzer Blick, und sie waren sich einig. Sie hatten beide nicht die geringste Lust, im Dunkeln herumzustapfen und irgend etwas Ekelhaftes zu suchen. Sollten sich doch Kochmanns Lieblinge darum kümmern.
Sie fegten den Schnee von ihren Fahrradsätteln, schlossen die Rä­der auf und machten sich auf den Heimweg. Weit war es nicht, nur zwei Kilometer ‚über’s Feld’ und am Waldrand entlang. Im Sommer war das sicher eine angenehme Strecke, aber jetzt wehte ein kalter Wind ihnen entgegen und blies ihnen Eiskristalle ins Gesicht. We­nigstens blies er auch den Geruch fort; schon nach hundert Metern war er ver­flogen.
Aber als sie die ersten Häuser erreichten, wurde Melanie plötzlich langsamer und hielt an. Sonja bremste vorsichtig und hielt ebenfalls an. „Was ist?”
„Da ist jemand.” Melanie schaute auf die dunkle Straße zurück, aber ein dichter Vorhang aus fallendem Schnee verbarg alles, was mehr als fünfzig Meter entfernt war. „Oder … etwas.”
„Wo?” Sonja lauschte, aber außer dem leisen Rascheln und Rieseln des fallenden Schnees hörte sie nichts. Ihr Herz klopfte plötzlich hart und schnell. Konnte es sein? War es möglich, dass dort draußen in der Dunkelheit ein Pferd allein unterwegs war?? Eins, das ihr folgte und nach ihr suchte, weil es gar kein gewöhnliches Pferd war, son­dern –
Jäh drehte Melanie sich um. Ihre Augen waren weit und dunkel. „Lass uns abhauen”, sagte sie gepresst. „Schnell!”
Sonja erschrak. „Aber – könnte es nicht Nachtfrost sein?”
„Nein, das ist er nicht. Los, komm!” Sie stieg wieder auf und trat so hart in die Pedale, dass das Fahrrad wegrutschte. Im letzten Moment fing sie sich ab und radelte los, so schnell sie konnte. Sonja folgte ihr hastig. Keine von ihnen drehte sich mehr nach der Dunkelheit, dem treibenden, fallenden Schnee um, und was auch immer dort war, es blieb lautlos und stumm auf dem Feld zurück und folgte ihnen nicht.

Der Vorteil einer großen Familie ist, dass ein Kind mehr oder weni­ger beim Abendessen nicht auffällt. Sonjas Mutter nahm einfach zur Kenntnis, dass Melanie da war, und warf noch eine Handvoll Nudeln ins Kochwasser. Während Sonjas neunjähriger Bruder Paul sich laut­stark darüber beschwerte, dass er „den ganzen Tag immer nur zum Arbeiten gezwungen” würde, weil er noch einen Stuhl aus der Küche ins Esszimmer tragen sollte, verzogen sich Sonja und Melanie ins Zimmer des älteren Bruders Philipp. Er war schon neunzehn und der einzige Mensch, der ihnen glauben würde, dass da draußen „irgend­was” war. Stirnrunzelnd hörte er ihnen zu. Noch vor sechs Wochen hätte er ihnen nicht geglaubt, aber inzwischen hatte er Darian und Asarié kennengelernt. Und für die Zeit ihrer Abwesenheit hatte Asa­rié ihm ihre Aufgabe übertragen, über die Nebelbrücke zu wachen.
„Als du diese Brückenwächterei von den Weißen Schwestern über­nommen hast, haben sie doch etwas von unerfreulichen Träumen er­zählt”, sagte er zu Melanie. „Hast du in den letzten Nächten irgend etwas Komisches geträumt?”
Sie runzelte die Stirn. „Nö. Ein paar Alpträume, aber -”
„Was für Alpträume?”
„Ich weiß nicht, die habe ich doch längst vergessen!”
„Denk nach”, sagte Philipp. „Es könnte wichtig sein.”
Melanie versuchte sich zu erinnern. „Einmal war ich in einem Ur­wald, und da waren …” Sie dachte noch länger nach und schüttelte den Kopf. „Es ist weg. Von der Nebelbrücke habe ich jedenfalls nie geträumt, nur einmal von Asarié.” Sie kicherte. „Sie hockte oben in einem toten Baum und versuchte, Blätter einzufangen, die um sie herumwirbelten. Aber sie hat kein einziges erwischt!”
„Hm”, machte Philipp. „Damit können wir wirklich nicht viel an­fangen. Aber ich glaube, du solltest heute abend nicht allein nach Hause fahren. Entweder du bleibst über Nacht hier, oder ich begleite dich.”
„Glaubst du denn, dass da draußen wirklich etwas ist?”, fragte Son­ja beklommen. Sich vor der Dunkelheit zu gruseln, war eine Sache – aber von Philipp bestätigt zu bekommen, dass sie vielleicht wirklich in Gefahr gewesen waren, machte das Ganze auf eine unheimliche Weise wirklich.
„Ich bin nicht ganz sicher”, antwortete Philipp. „Aber ich hatte in den letzten Tagen öfter das Gefühl, dass jemand ums Haus schleicht. Und dieser ekelhafte Geruch – ja, der ist mir auch aufgefallen. Viel­leicht gehört das zusammen. Gesehen habe ich nichts, aber Asarié hat mir gesagt, dass man es irgendwie spürt, wenn jemand hier herüber­kommt, der nicht hergehört.”
„Aber wie soll das gehen?”, fragte Melanie verblüfft. „Ich dachte immer, man könnte nur auf einem Einhorn über die Nebelbrücke rei­ten, weil das Einhorn selbst der Zauber ist?”
„Ja, das haben sie uns gesagt. Aber Asarié ist auch ohne Nachtfrost nach Parva gekommen. Offenbar gibt es den einen oder anderen Schleichweg.”
Sonja runzelte die Stirn. „Dann braucht sie Nachtfrost ja gar nicht, um zurückzukommen. Vielleicht ist er alleine über die Brücke gegan­gen – vielleicht war er es ja doch!”
„Nein”, sagte Melanie heftig. „Er hätte nie zugelassen, dass wir Angst bekommen.”
„Und was hier um’s Haus schleicht, ist mit Sicherheit kein Pferd”, sagte Philipp. „Sonst hätte es nämlich Hufspuren im Schnee hinter­lassen.”
„Dann ist es ein Mensch?”, fragte Sonja.
„Wenn es ein Mensch ist, dann einer, der sich seit Jahren nicht ge­waschen hat und in Hühnerställen übernachtet. Hör mal, Melanie, wenn du hier übernachten willst, solltest du deine Eltern anru­fen.”
Melanie nickte, rutschte von Philipps Bett und ging aus dem Zim­mer. Philipp stand von seinem Schreibtischstuhl auf, duckte sich un­ter zwei von der Decke hängenden Flugzeugmodellen hindurch und ging zum Fenster. Einen langen Blick warf er hinaus in den fallenden Schnee, dann ließ er den Rolladen herunter.
„Ist da was?”, fragte Sonja ängstlich.
Er schüttelte nur den Kopf.
Einen Moment später riss Paul die Zimmertür auf. „Essen kom­men!” Und weg war er.
Auf dem Flur trafen sie Melanie. „Was haben deine Eltern gesagt?”, fragte Philipp.
„Ich darf nicht bleiben”, sagte sie niedergeschlagen. „Schließlich ist morgen Schule, und ich habe nur die Reitklamotten dabei.”
„Aber du kannst nicht alleine fahren!”, rief Sonja. „Philipp, du bringst sie doch nach Hause, oder?”
„Ja sicher”, sagte er. „Ich hab’s ja schließlich versprochen.”
„Macht es dir auch nichts aus?”, fragte Melanie nervös.
„Quatsch.” Philipp grinste und verstand sie absichtlich falsch. „Die hundert Meter schaffe ich nun wirklich noch.”
Dunkel erinnerte sich Melanie, dass sie Philipp früher überhaupt nicht gemocht hatte. Aber nun ertappte sie sich plötzlich bei dem Ge­danken, dass der Heimweg auch ohne diese seltsame Bedrohung viel angenehmer sein würde, wenn Philipp mit seinen zerschlissenen Jeans, der hässlichen Lederjacke und seinem schrägen Lächeln neben ihr herschlenderte. Auch wenn sie gerne bei Sonja übernachtet hätte, freute sie sich nun doch ein kleines bisschen, dass ihre Mutter es ent­schieden verboten hatte.
Beim Abendessen waren die drei recht schweigsam, aber das fiel niemandem auf, da Paul mit den Eltern um die Zahl seiner Geburts­tagsgäste in der nächsten Woche feilschte und jeden Hinweis auf zu wenig Geld oder Platz mit einem Sturm von Widersprüchen und Ar­gumenten beiseitefegte. Als das unvermeidliche, in jedem Jahr er­folgreiche weinerliche „Und ich bekomme auch immer viel weniger zu Weihnachten als alle anderen!” in der Diskussion landete, gaben sich die Eltern geschlagen, und Paul stürzte sich mit Feuereifer auf die Frage der Süßigkeiten, Dekorationen, Spiele und erst ab zwölf freigegebenen Actionfilme. Sonja, Melanie und Philipp machten sich aus dem Staub, sobald es ging.
„Keinen Zweck, es aufzuschieben”, sagte Philipp mit einem Blick auf seine Uhr. „Pack dein Zeug zusammen, Melanie.”
„Ihr seid doch vorsichtig?”, sagte Sonja nervös.
„Ja, Mama.”
Die beiden Mädchen kicherten, aber ganz überzeugend klang es nicht. Und Sonja wusste auch, dass sie sich sehr albern benahm – aber hatte sie nicht allen Grund dazu? Sie wussten alle drei, dass et­was nicht stimmte, auch wenn sie nicht wussten, was das sein sollte. Undeutlich spürte sie, dass es besser gewesen wäre, wenn Melanie doch bei ihr übernachtet hätte – aber der Gedanke, einer Frau wie Melanies Mutter etwas über Magie und fremde Welten zu erzählen, war absurd.
Philipp und Melanie verließen die Wohnung. Sonja schloss die Tür hinter ihnen und fühlte sich sofort schutzlos und verlassen. Aller­dings hatte sie nicht viel Zeit, darüber nachzudenken, denn Paul, der immerhin schon einen Stuhl fünf Meter weit durch die Wohnung ge­tragen hatte, weigerte sich kategorisch, jetzt auch noch beim Abwa­schen zu helfen. Und so verbrachte Sonja den restlichen Abend in der Küche, über ihren Hausaufgaben und vor dem Fernseher und wartete darauf, dass Philipp zurückkam. Schließlich wohnte Melanie ja nur zwei Straßen entfernt.
Aber es wurde neun Uhr, es wurde halb zehn und zehn, und Philipp kam nicht zurück.

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