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Inhalt:

Die zwölfjährige Sonja entdeckt im Wald ein verletztes graues Pferd. Beim Versuch, ihm zu helfen, wird sie von einer Gruppe mofafahrender Jugendlicher entdeckt und misshandelt. Auf dem Rücken des Pferdes gelingt ihr die Flucht in den Nebel – aber als der Nebel sich lichtet, befindet sie sich in einer anderen Welt, und das graue Pferd ist plötzlich ein schwarzes Einhorn.

Sein Name ist Nachtfrost, und er ist der Bote der Göttin Aruna. Schon bald wird Sonja in einen Krieg zwischen den Nomaden von Parva und dem „Spürer“ – einem Heerführer des Königs – hineingezogen. Zwischen Wolfsmenschen und sechsbeinigen Riesenbüffeln, Erdgnomen, Trollen und Menschen muss sie ihren eigenen Weg finden. Dabei scheint ein magisches Amulett, das sie gefunden hat, eine größere Rolle zu spielen.

Währenddessen finden Sonjas älterer Bruder Philipp und ihre beste Freundin Melanie einen seltsamen Jungen namens Darian: den Reiter des schwarzen Einhorns.

 

1. Kapitel

Waterloo

Es war ein schöner, sonniger Tag, einer der letzten Tage, die sich noch nach Sommer anfühlten. Ein warmer Wind spielte in den Zwei­gen der Bäume im Forstwald und strich über Sonjas Wangen, als sie sich leicht nach vorne beugte und Micky antrieb. Der feurige Ara­berhengst schüttelte schnaubend den braunen Kopf, fiel aber auf einen leichten Schenkeldruck hin willig in Galopp.
In Wirklichkeit hieß er natürlich nicht Micky. Er trug einen edlen, stolzen, unaussprechlichen arabischen Namen, den Sonja sich ein­fach nicht merken konnte – obwohl sie ihn sich selber ausgedacht hatte. Also musste er sich damit begnügen, Micky gerufen zu wer­den, und es war ihm wohl auch ziemlich egal. Für ihn war nur eins wichtig: mit Sonja auf dem Rücken durch den Wald zu galoppieren, fern von allen anderen Menschen.
Quer über den Waldweg lag ein Baumstamm. Sonja spürte, wie Micky sich spannte. Sein Galopp wurde kraftvoller, zielstrebiger, er sammelte sich, stieß sich ab, sprang –
„Und dazu kann uns bestimmt Sonja etwas sagen, oder? Sonja, auf­wachen!”
Sonja fuhr hoch. „W-was?”
Die Klasse kicherte. Frau Scheuren, die Geschichtslehrerin, mus­terte Sonja und sagte: „Waterloo.”
Sonja starrte sie wortlos an. Waterloo? Was sollte das sein? Was sollte sie damit anfangen? Ihr Kopf war noch voll von Sonne und Wald und dem Sprung, da war kein Platz für Geschichtsunterricht. Es half ihr nichts, dass die anderen noch lauter kicherten, ihre beste Freundin Melanie sie anstieß und „Napoleon!” flüsterte. Sie fühlte sich wie benommen.
Frau Scheuren schüttelte den Kopf. „Sonja, wolltest du nicht ir­gendwann im nächsten Jahr versetzt werden? Dann schlage ich vor, du hörst auf, Pferde in dein Heft zu zeichnen, und passt endlich mal auf. Also, wann war die Schlacht von Waterloo, bei der Napoleon vernichtend geschlagen wurde?”
Fieberhaft kramte Sonja in ihrem Gedächtnis. „Äh … 1789?”
Ein paar Streber begannen zu lachen. „1815!”, zischte Melanie, aber es war schon zu spät. Frau Scheuren wandte sich Nadine zu, die immer alles wusste und sofort die richtige Antwort gab. Sonja sank in sich zusammen und schaute auf ihr Heft hinab. Ohne es zu mer­ken, hatte sie Micky gezeichnet – wieder und wieder, als könnte sie ihn damit beschwören, herbeizugaloppieren und sie fortzutragen. Ganz gleich, wohin.
Sie seufzte leise. Es war ziemlich unwahrscheinlich, dass Micky je­mals irgendwohin galoppieren würde. Was sie da in ihr Heft gekrit­zelt hatte, war ein struppiges Fass auf vier dicken Beinen. Nicht, weil sie nicht zeichnen konnte – das konnte sie sogar recht gut -, sondern weil es einfach der Wirklichkeit entsprach. Einen größeren Unterschied als den zwischen dem feurigen Araber ihrer Träume und dem alten, dicken Pony auf Frickels Waldhof konnte es überhaupt nicht geben. Falls Micky wirklich einmal galoppiert war – als Foh­len vielleicht –, hatte er es in den vierundzwanzig Jahren danach längst vergessen. Er war alt, müde, struppig, und wenn Sonja seine Hufe auskratzte, konnte es passieren, dass er mit seinen langen gel­ben Zähnen nach ihr schnappte. Aber sie liebte ihn trotzdem.
Sie griff nach dem Bleistift und zeichnete sich selbst auf den Rücken des fassartigen Ponys: eine mickrige Strichfigur mit braunen Haaren. Und schon war sie wieder im Wald. Micky schwebte über den Baumstamm, als wollte er nie wieder landen. Endlich landete er doch, weich und mühelos, und galoppierte weiter, immer weiter …
„Sonja!”
Sie zuckte zusammen und ließ den Stift fallen.
„Wie hieß die Insel, auf die Napoleon nach der Schlacht verbannt wurde?”
Insel. Eine Insel. Hilfe, was für Inseln gab es denn überhaupt? Is­land? Shetland? Nein, natürlich nicht. Es musste doch noch mehr In­seln auf der Welt geben! Todesmutig wagte sie eine Antwort. „Gran Canaria.”
Die Klasse brach in brüllendes Gelächter aus. Nur Melanie verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf.
„Da hätte er sich wahrscheinlich wohler gefühlt als auf St. Helena”, sagte Frau Scheuren trocken und wandte sich jemand anderem zu.

„Manchmal bist du echt peinlich”, sagte Melanie unmittelbar nach dem Klingeln. „Gran Canaria!”
Sonja biss sich auf die Lippen. Der Spott der Klasse war ihr egal, aber vor ihrer besten Freundin hatte sie sich eigentlich nicht blamie­ren wollen. „Ich kann mir St. Helena einfach nicht merken”, sagte sie in dem schwachen Versuch, sich zu rechtfertigen.
„Ach Quatsch, du hattest einfach überhaupt keine Ahnung.” Das klang nicht sehr freundlich, und Sonja wurde rot.
„Das ist nicht wahr!”
„Ist es doch. Weißt du überhaupt irgendwas über Napoleon – außer, dass er nicht nach Gran Canaria verbannt wurde?”
„Na ja …” Fieberhaft dachte Sonja nach. „Sein Lieblingspferd hieß Marengo.”
Melanie verdrehte die Augen, schnappte sich ihre Tasche und ging zur Tür. Da es die letzte Schulstunde gewesen war, waren alle ande­ren schon längst draußen. Sonja griff nach ihrem Rucksack und lief der Freundin nach. „Warte! Fahren wir gleich zum Waldhof?”
Melanie blieb stehen und drehte sich um. „Nein. Im Gegensatz zu dir habe ich noch etwas anderes als Pferde im Kopf. Ich gehe mit Sabrina und Nadine schwimmen.” Sie zögerte und setzte – ziemlich gönnerhaft – hinzu: „Du kannst ja mitkommen.”
„Aber heute ist doch Freitag”, sagte Sonja bestürzt. „Ich habe extra Möhren mitgenommen, und –”
„Die Ponys verhungern auch nicht, wenn du ihnen die Möhren erst morgen gibst”, sagte Melanie. „Komm schon mit! Ich habe heute wirklich keine Lust auf den Stall!”
Das klang gar nicht nach ihr. Sonja konnte sich schon denken, was passiert war. Bestimmt hatten Sabrina und Nadine auf dem gemein­samen Schulweg wieder gegen die Ponys gehetzt. Schon seit Ewig­keiten versuchten sie Melanie in ihre Clique hineinzuziehen, weil ihre Eltern eine Menge Geld hatten. Aber bisher hatte Melanie sich nicht davon beeindrucken lassen.
Wenigstens wollte sie, dass Sonja mitkam, und der Gedanke war schon ziemlich verlockend. An so einem schönen Tag war es im Schwimmbad bestimmt viel lustiger als auf dem Waldhof. Und wenn sie nicht mitging, würden Sabrina und Nadine wieder versuchen, Melanie gegen sie aufzuhetzen. „Deine blöde Freundin mit dem Pferdetick”, würden sie sagen. „Die stinkt doch zehn Meilen gegen den Wind nach Pferdemist.”
Aber dann dachte sie an Micky und Bjarni, die alten Ponys auf dem Waldhof. Sie freuten sich immer, wenn die beiden Mädchen kamen, und wieherten los, sobald sie die Fahrradklingeln im Wald hörten.
Schnell, bevor sie es sich anders überlegen konnte, sagte sie: „Ich hab gar keine Lust aufs Schwimmen. Viel Spaß!” Sie schlüpfte an Melanie vorbei und lief den Flur hinunter.

Aber schon auf dem Weg über den Schulhof zu ihrem Fahrrad überfiel sie der Zweifel. Was sollte sie tun, wenn Melanie sich tat­sächlich gegen sie aufhetzen ließ? Dann war sie ganz allein. Und ei­gentlich wollte sie sehr gerne schwimmen gehen, nur auf die einge­bildete Sabrina und die zickige Nadine hatte sie keine Lust. Aber wenn sie nicht mitging, konnten die beiden ungehindert gegen sie losziehen, und wenn Melanie sich davon beeinflussen ließ …
… und außerdem hatte sie ihren Schwimmbeutel tatsächlich dabei. Er lag in ihrem Spind in der Schule.
Sie drehte sich um und rannte zurück. Als sie den Schwimmbeutel aus dem Spind holte und den Rucksack mit den Büchern und Möh­ren hineinstopfte, hatte sie doch noch einmal ein schlechtes Gewis­sen. Aber Melanie hatte Recht – die Ponys konnten auch mal bis morgen warten. Eine Freundschaft war wichtiger. Vor allem, wenn man sonst keine Freunde hatte.
Melanie, Nadine und Sabrina schlossen gerade ihre Fahrräder auf, als Sonja angerannt kam. Als Melanie Sonja erkannte und über das ganze sommersprossige Gesicht strahlte, war Sonja sicher, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Und Wunder über Wun­der: selbst die beiden anderen schienen sich zu freuen. Zumindest lä­chelten sie, auch wenn sie Sonjas schäbiges T-Shirt und die alte Jeans ziemlich spöttisch musterten.
„Schön, dass man dich mal von den stinkenden Viechern weg­kriegt”, sagte Nadine. „Vielleicht wird ja doch mal was aus dir … auch wenn du nur Müll anhast.”
Sabrina lachte, Melanie auch. Sonja zuckte nur die Achseln. „Im Stall kann ich mit Markenklamotten ja nicht viel anfangen.”
„Wenn du welche hättest”, sagte Sabrina.
Aber der Pfeil traf nicht. Sonja hatte sich noch nie etwas aus Klei­dern gemacht. „Genau. Fahren wir?”
Sie schwangen sich auf die Räder und fuhren los. Am Schwimm­bad schlossen sie die Räder ab und reihten sich in die Schlange vor der Kasse ein. Es war heiß, sie schwitzten und fächelten sich gegen­seitig mit ihren Taschen Luft zu. Aber als nur noch zwei Leute vor ihnen waren, wurde es Sonja plötzlich ganz kalt. Ihr Portemonnaie! Sie hatte ihr Geld nicht dabei!
Nadine und Sabrina bezahlten ihren Eintritt und gingen durch das Drehkreuz.
„Was ist los?”, fragte Melanie. „Du bist plötzlich ganz weiß! Ist dir schlecht?”
„Ich hab mein Geld im Rucksack vergessen”, stammelte Sonja. „Kannst du mir etwas leihen? Ich geb’s dir gleich am Montag zu­rück!”
Melanie runzelte die Stirn. „Nee du, tut mir Leid, das geht nicht. Ich habe den anderen versprochen, sie zum Eis einzuladen. Musst halt zurückfahren und dein Geld holen. Du findest uns schon. Bis später – und beeil dich!” Und damit warf sie ein paar Münzen in den Automat, zog ihre Karte, schob sich durch das Drehkreuz am Ein­gang und lief den beiden anderen nach.
Wie gelähmt sah Sonja zu, wie Nadine und Sabrina sich verwun­dert nach ihr umschauten. Sabrina fragte etwas, Melanie zuckte die Achseln und antwortete ihr, und Nadine lachte. Dann gingen die drei weg und verschwanden in der Menge, ohne sich auch nur einmal nach Sonja umzudrehen.
„Willst du hier anwachsen?”, fragte ein schwitzender Mann barsch. Sie wich aus. Ein paar Leute in der Schlange schauten zu ihr hin, je­mand grinste.
Sie drehte sich um und ging zu ihrem Fahrrad zurück. Die Lust zum Schwimmen war ihr gründlich vergangen. Und während sie zur Schule zurückfuhr, wusste sie schon, dass Melanie nie wieder mit zum Waldhof kommen würde. Jedenfalls nicht mit ihr.
Sie tauschte den Schwimmbeutel gegen den Rucksack aus, schloss den Spind ab und machte sich auf den Weg zum Wald.
Der ‚Waldhof Frickel’ lag dicht hinter dem Waldrand. Er war kein richtiger Hof, sondern bestand nur aus einem hässlichen grauen Wohnhaus und zwei Blechbaracken, in denen die Tiere mehr schlecht als recht untergebracht waren. In einer der Baracken haus­ten die Ziegen Susi und Bombe und das Schaf Wilhelmine, in der zweiten Micky und Bjarni, die beiden Ponys einer undefinierbaren Rasse. Früher hatte es auch einmal einen Schuppen mit ein paar Meerschweinchen und Kaninchen gegeben, aber die waren nach und nach von Füchsen und Mardern geholt worden, so dass der Schup­pen jetzt leer stand und vor sich hinmoderte.
Sonja und Melanie hatten den Hof vor drei Jahren bei einem Spa­ziergang im Wald entdeckt. Es war nichts los, außer ihnen gab es keine Besucher, und damals hatten sie sich sehr darüber gefreut. Keine anderen Kinder, die ihnen die Meerschweinchen aus den Hän­den rissen oder die Ponys für sich beanspruchten – klasse! Aber nachdem sie angefangen hatten, regelmäßig dort auszuhelfen, hatten sie rasch gemerkt, dass der Waldhof ohne Besucher nicht überleben konnte. Immer war zu wenig Geld für Futter und Stroh da, der Huf­schmied kam nur noch, wenn er auch sofort bezahlt wurde, der Tier­arzt kam überhaupt nicht mehr. Und Karl Frickel kümmerte sich nicht um seine Tiere. In der Woche warf er ihnen schon mal Futter hin, aber am Wochenende war er oft nicht da. Das Ausmisten über­ließ er grundsätzlich den beiden Mädchen, die sich damit das Reiten verdienten.
Sonjas Eltern, die als Pfleger im Schichtdienst in der psychiatri­schen Klinik arbeiteten und sich wenig um ihre Kinder kümmerten, glaubten immer noch, dass Sonja im Waldhof ‚Reitstunden’ erhielt, die sie von ihrem Taschengeld bezahlte. Sie hatte ihnen nie erzählt, dass sie fast die ganze Zeit mit Füttern und Ausmisten verbrachte und beim Reiten mit Melanie und den beiden Ponys allein war. Sie fand es ganz in Ordnung so – niemand redete ihnen dazwischen, und es war fast so, als hätte sie fünf eigene Haustiere. Zu Hause durfte sie ja nicht einmal einen Laubfrosch haben.
Sie erreichte den Waldrand und betätigte kräftig die Fahrradklingel, damit Micky und Bjarni wussten, dass sie kam. Aber die Ponys schienen sie nicht gehört zu haben, denn es kam keine Antwort. Son­ja fuhr einen Abhang hinunter auf den Waldweg und klingelte noch einmal. Alles blieb still. Sie runzelte die Stirn und trat stärker in die Pedale.
Schon von weitem sah sie das alte, abgeblätterte Holzschild mit der Aufschrift „Waldhof” am Zaun. Hier im Wald war es immer fried­lich, aber als Sonja durch das Holztor auf den Hof fuhr, wurde ihr die Stille plötzlich unheimlich. Noch nie war sie ganz allein herge­kommen. Ob die Tiere gemerkt hatten, dass etwas nicht stimmte? Die Ziegen meckerten nicht, das Schaf blökte nicht, und auch Micky und Bjarni schlugen nicht wie sonst ungeduldig mit den Hufen ge­gen die Stalltür. Sie lehnte ihr Rad gegen den Zaun und und schaute sich um. Keins der Tiere war auf der Weide. Der alte Opel, mit dem Karl Frickel durch die Gegend fuhr, war verschwunden. Obwohl das nichts Ungewöhnliches war, fröstelte Sonja plötzlich.
„Was ist denn hier los?”, murmelte sie und rief laut: „Bjarni! Micky!”
Nur Stille antwortete ihr. Irgendwo im Wald keckerte ein Vogel, dann war es wieder ruhig.
Sonja merkte, wie sie eine Gänsehaut bekam. Etwas war hier ganz und gar nicht in Ordnung. „Micky!” Sie lief zum Stall, schob den Riegel zurück und zog die schwere Tür auf.
Drinnen war es dunkel. Dreckiges Stroh lag auf dem Boden. Die Ponys waren nicht da. Auch der Sattelbaum war leer; vielleicht war jemand mit ihnen ausgeritten? Aber was war mit den anderen Tie­ren? Sie rannte zum Ziegenstall hinüber. Auch er war leer. Weder das Schaf noch die beiden Ziegen waren zu sehen oder zu hö­ren.
Vielleicht waren sie endlich alle beim Tierarzt? Susi hustete schon seit drei Wochen, Bombe war ständig scheinschwanger, Wilhelmine musste geschoren werden, und den Ponys ging es auch nicht beson­ders. In diesem Sommer hatten sie mehr unter der Hitze gelit­ten als früher. Vielleicht hatte Herr Frickel endlich eingesehen, dass es so nicht mehr ging, und hatte sie alle zum Tierarzt gefahren.
Um so wichtiger war es, dass sie in saubere Ställe kamen, wenn er sie zurückbrachte.
Ihre Stimmung besserte sich sofort. Sie stand auf, holte eine Mist­gabel und die Schubkarre und fing an, die Ställe auszumisten. Wäh­rend der Arbeit horchte sie ständig nach draußen – hoffentlich ka­men sie nicht zurück, bevor sie fertig war! Aber alles blieb still. Son­ja fuhr fünf Karren Mist nach draußen und kippte sie auf den Mist­haufen hinter der Scheune. Dabei stellte sie sich vor, wie die Tiere nachher schnaufend und zufrieden im sauberen Stroh wühlen wür­den. Bjarni und Micky bekamen natürlich die meisten Möhren, aber für die anderen blieb noch genug übrig. Und Herr Frickel würde endlich einmal freundlich lächeln und sich für ihre Arbeit bedanken. Wer brauchte schon Melanie? Der Waldhof sicher nicht. Und Sonja schon gar nicht.
Endlich waren die Ställe leer. Jetzt das saubere Stroh. Schwungvoll schob Sonja die Karre zur Scheune, zog das Scheunentor auf und blieb wie angewurzelt stehen.
Die ganze linke Seite, wo sonst die Strohballen lagerten, war leer. Rechts rostete der uralte Traktor vor sich hin, daneben lagen die Trümmer eines mindestens hundert Jahre alten Mähdreschers und ein paar kaputte Blecheimer. Das war alles.
Der Traum zerstob zu nichts.
Eine ganze Weile stand Sonja nur da und starrte in die leere Scheu­ne, weigerte sich einfach, es zu glauben. Es war, als hätte ihr jemand den Boden unter den Füßen weggezogen oder sie aus heiterem Him­mel geohrfeigt. Sie konnte es noch nicht fassen.
Sie sind weg. Sie sind alle … einfach … weg.
Dann drehte sie sich um und ging weg. Strohgabel und Schubkarre ließ sie zurück.
Sie ging geradewegs zum Haus.
Herr Frickel mochte es nicht, wenn sie in die Nähe des Hauses ka­men. „Was ist los?”, schnauzte er dann. „Geht die Welt unter? Nein? Dann lasst mich gefälligst in Ruhe!”
Aber erstens war er nicht da, und zweitens war jetzt sowieso schon alles egal.
Das Haus war genauso heruntergekommen wie der Rest des Hofes. In großen Stücken blätterte der graue Putz von den alten Ziegelstein­mauern. Das Dach war schief und krumm, hier und da fehlte ein Dachziegel. Der Garten war eine wuchernde Wildnis aus Disteln, Brennesseln und kniehohem gelbem Gras.
Früher hatte es hier einen Weg ums Haus herum gegeben, aber er war längst zugewachsen. Sonja stapfte durch das hohe Gras. Halb lauschte sie noch immer nach hinten – war da ein Motorengeräusch? Kam Herr Frickel doch zurück? Sie blieb stehen und lauschte. Aber alles blieb still, nur im Wald zwitscherten die Vögel. Also ging sie um das Haus herum und trat auf die Terrasse, deren Steinfliesen von Moos und Dreck überzogen waren. Von dort konnte sie mitten in Herrn Frickels Wohnzimmer hineinschauen … genauer gesagt, in das, was einmal ein Wohnzimmer gewesen war.
Es war leer. Kein einziges Möbelstück stand in dem kahlen Raum.
Sie wollte es noch immer nicht glauben. Aber dann dachte sie an Micky und Bjarni, die schon so alt gewesen waren, dass sicher kein Händler sie gekauft hatte. Die beiden nutzlosen und ständig kranken Ziegen. Das uralte Schaf. Er musste sie allesamt geradewegs zum Schlachter gefahren haben.
Micky, dachte sie. Und heulte los.
Schlimmer konnte sich auch Napoleon nach der Schlacht von Wa­terloo nicht gefühlt haben.

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