Inhalt:

Sonja und Melanie sind aus Parva zurückgekehrt. Die Prophezeiung wurde erfüllt, alle Abenteuer sind erlebt – oder doch nicht? Sonjas Fähigkeit zum Seelentausch hat die Aufmerksamkeit eines gefährlichen Jägers geweckt.Und plötzlich greift die Magie in unsere Welt über und kommt Sonjas Familie viel zu nahe …

1. Kapitel

Bens Problem

Es war ein schöner, sonniger Tag, einer der ersten richtigen Frühlingstage nach einem unerfreulich nasskalten Winter. Ein warmer Wind spielte in den Zweigen der Bäume am Rand des Trainingsgeländes und strich über Sonjas Wangen, als sie sich leicht nach vorne beugte und Nero antrieb. Der feurige Vollbluthengst schüttelte schnaubend den schwarzen Kopf und galoppierte ein wenig schneller.
In Wirklichkeit hieß er natürlich nicht Nero, sondern Nachtfrost und war ein Einhorn aus einer fremden Welt. Und wie ihn die Menschen hier nannten, war ihm egal. Für ihn war nur eins wichtig: mit Sonja auf dem Rücken durch diese oder jede andere Welt zu galoppieren.
„He, Rennschnecke!“, rief Ben, als Pferd und Reiterin an ihm vorbeigaloppierten. „Schaffst du die zweitausend Meter heute auch in weniger als einer Stunde?“
‚Nero‘ galoppierte seelenruhig weiter, und Sonja kicherte. Dann beugte sie sich noch ein wenig tiefer über die peitschende Mähne. „Ein bisschen schneller – mir zuliebe? Nur heute? Weil Ostern ist?“
Die schwarzen Pferdeohren legten sich ganz kurz nach hinten. Lieber nicht.
„Bitte? Bittebittebitte?“
Nein.
„Nur für hundert Meter?“
Nein.
„Ach komm – es ist doch niemand da!“
Aber Nachtfrost legte wieder die Ohren an, und diesmal verstand Sonja die Warnung. Das hieß aber noch lange nicht, dass sie sich damit abfand. „Wir können uns doch nicht immer und immer nur fürchten!“
Doch, sagte Nachtfrost. Solange jemand über uns nachdenkt, können und müssen wir uns fürchten. Aber versteh mich nicht falsch – ich will ja rennen! Nur nicht hier.
Sonja wusste, dass seine momentane Galoppgeschwindigkeit immer noch ganz ordentlich war – jedenfalls für ein irdisches Rennpferd. Aber auf den endlosen Ebenen von Parva rannte Nachtfrost schneller als der Wind.
Sie überquerten noch einmal die Ziellinie, wurden langsamer und kehrten zu Ben zurück. Der dunkelhäutige Stallmeister blickte auf seine Stoppuhr. „Ganz großes Kino. Fast eine halbe Minute langsamer als Santana in seinen schlechteren Zeiten. Rückwärts. Auf drei Beinen.“
Nachtfrost schnaubte belustigt, aber Sonja schmollte. „Wir dürfen ja nicht schneller.“
„Deshalb war das ja auch ein echtes Lob.“
Wir dürfen es aber nicht übertreiben, sagte Nachtfrost und rieb seinen Kopf an Bens Brust. Wenn ich noch langsamer werde, wird sich jeder fragen, warum du mich überhaupt noch ins Rennen schickst.
„Es wird auch auch deine letzte Saison sein. Danach geht ‚Nero‘ in Rente, und wir haben vielleicht endlich Ruhe.“ Ben klopfte ihm den Hals. „Genug für heute. Das sah gut aus, Sonja – ich weiß ja, dass du oben bleiben kannst, aber allmählich bekommst du auch eine gute Haltung. Sehr schön.“ Er machte sich auf den Weg zu den Stallgebäuden, und Nachtfrost, der formgewordene Windgeist aus einer fremden Welt, trottete wie ein braves Pferd hinter ihm her.
Sonja war glücklich. Es kam nicht oft vor, dass Ben sie lobte. Natürlich war er kein ausgebildeter Reitlehrer, aber er achtete doch sehr genau auf das, was sie tat. Meistens korrigierte er ununterbrochen ihren Sitz, ihre Beine, ihre Hände, ihren Kopf, ihre Art, die Zügel zu halten, und er ließ sie keinen der kostbaren Vollblüter reiten, die hier auf Gut Stettenbach für Rennen trainiert wurden. Offenbar war alles, was sie und Melanie sich je an „Reitkunst“ beigebracht hatten, vollkommen falsch, wenn man kein Freizeitpony, sondern ein Rennpferd reiten wollte. Für die Reitschule Kochmann reichte es gerade, aber keiner der Vollblüter hier hätte ihr die dämlichen Anfängerfehler verziehen, die sie immer wieder machte. Aber ‚Nero‘ war ja nun einmal kein Pferd. Er war etwas Einzigartiges und ihr bester Freund, und nie im Leben würde er sie abwerfen oder sie etwa beißen oder treten. Auf seinem Rücken war sie sicherer als irgendwo sonst.
Noch besser wäre der Tag natürlich gewesen, wenn Melanie, ihre beste Freundin, und Philipp, ihr großer Bruder, ihn mit ihr geteilt hätten. Aber Melanie war mit ihren Eltern über die Ostertage zu Verwandten nach Italien gefahren, und Philipp hatte sich seinen größten Traum erfüllt und einen dreiwöchigen Segelflugkurs in der Nähe von München belegt. Sonja war in diesen Osterferien täglich mit Ben und den Pferden – und ein paar Jockeys, Bereitern und Pferdepflegern – auf dem Hof allein. Wenigstens war Ben ein guter Ersatz, obwohl er nicht nur ein Erwachsener war, sondern nicht einmal ein richtiger Mensch. Was er war, wusste Sonja nicht genau. Er hatte ihr erzählt, dass es auf der Welt Araun, von der er und Nachtfrost stammten, viele Völker gab, die mehr oder weniger menschenähnlich waren. Es gab auch intelligente Wesen, die kein bisschen menschenähnlich waren, es gab Geister und Magie und gruselige Dämonen, und manchmal fragte sich Sonja, ob sie eigentlich leichtsinnig war, weil sie sich mit einem außerirdischen Magier angefreundet hatte. Aber sie vertraute Ben nun einmal fast so sehr wie Nachtfrost.
Sie beugte sich nach vorne, legte den Kopf auf die schwarze Mähne  und streichelte das Fell an seinem Hals, während sie seinen Pferdegeruch einatmete. „Ben, willst du ihn wirklich nur noch in dieser Saison mitrennen lassen?“
Ben nickte. „Es wird höchste Zeit, dass wir ihn ganz aus der Öffentlichkeit herausnehmen. Je weniger Aufmerksamkeit wir auf uns ziehen, desto besser… besonders jetzt.“
Nachtfrost wandte den Kopf zu Ben hin, und Sonja richtete sich auf. „Wieso gerade jetzt? Was ist denn?“
In dem dunklen Gesicht konnte sie nicht gut lesen, aber Ben sah aus, als hätte er lieber den Mund gehalten. „Nichts. Schon gut.“
„Hat es etwas mit Nachtfrost zu tun?“
„Macht euch keine Gedanken …“
Ben, sagte Nachtfrost. Ich bin kein Pferd, und Sonja ist kein Kind. Was ist los?
Ben seufzte und blieb eine Weile stumm, aber sie spürten beide, dass sie eine Antwort bekommen würden, und drängten ihn nicht. Erst im Stall, als Sonja ‚Neros‘ Fell striegelte und Ben seine Hufe untersuchte, sagte er: „Ihr erinnert euch doch an Josef Trischer? Den Kerl von der Rennbahn?“
„Den Tierquäler, der dir die Polizei auf den Hals gehetzt hat?“ Allein die Erinnerung daran machte Sonja wütend. „Ja, klar. Was ist mit dem?“
„Er ruft fast täglich an und will Frau von Stetten sprechen.“ Nachtfrost legte abrupt die Ohren an und warf den Kopf hoch, und Ben musste sein Vorderbein loslassen. „He! Halt still!“
Sonja klappte den Mund auf, wusste aber vor Bestürzung nicht, was sie sagen sollte, und brachte schließlich nur heraus: „Oh.“
Und was sagst du ihm?
„Das Übliche“, sagte Ben, während er Nachtfrosts Huf wieder anhob und weiter auskratzte. „Sie war verreist, sie war krank, sie ist in Kur. Aber nach fünf Monaten zieht das allmählich nicht mehr. Gestern sagte er, dass ‚man‘ allmählich auf komische Gedanken kommen könnte, wenn ich nicht bald wenigstens eine Handynummer herausrücken würde, unter der man sie erreichen könnte.“ Er richtete sich wieder auf und klopfte den Hufkratzer an der Wand ab. „Wenn er mit seinen ‚komischen Gedanken‘ zur Polizei geht und meine Arbeitgeberin als vermisst meldet, wird es gefährlich für uns. Natürlich könnte ich behaupten, dass er einfach ein Stalker ist, aber sie werden ihm eher glauben als mir.“
„Was will er denn von ihr?“
„Das weiß ich nicht, und das ist auch nicht wichtig. Wichtig ist nur, dass ich bald irgendeine Lösung finden muss. Asarié hat sich hier ein Leben aufgebaut; wir konnten nicht erwarten, dass niemand nach ihr fragt, wenn sie so plötzlich verschwindet. – Und das ist auch gut so“, fügte er streng hinzu, als Sonja einen Flunsch zog. „Stell dir vor, was das für eine Welt wäre, in der Menschen einfach so verschwinden können und keiner nach ihnen fragt. In so einer Welt würdest du nicht leben wollen.“
Er hatte natürlich recht, und Sonja schämte sich ein bisschen, aber nicht sehr. Sie hatte Asarié vertraut, weil sie eine Brückenwächterin gewesen war, Nachtfrost als Fohlen aufgezogen hatte und außerdem der einzige Mensch gewesen war, der wusste, was vor sich ging – und Asarié hatte sie belogen, ausgenutzt und versucht, das magische Wolfskopfamulett und seine Macht für sich zu bekommen. Ohne Rücksicht auf den Kampf des Landes gegen die Dämonen, auf Nachtfrosts Auftrag, auf Darian, Melanie, Elri und Lorin oder eben auch auf Ben, der nun in dieser Welt gestrandet war, weil er auf ihren Hof und die Pferde aufpassen musste, obwohl er anderswo sicher wichtigere Dinge zu tun hatte. Das alles war ihr völlig egal gewesen.
Sie hatte den Glauben verloren, sagte Nachtfrost, der natürlich wusste, was sie dachte. Sie war zu lange hier und hatte vergessen, was es heißt, Teil einer lebendigen Welt zu sein.
Aus irgendeinem Grund hatte Sonja das Gefühl, ihre Welt verteidigen zu müssen, aber sie wusste nicht, wie. Eine Welt, auf der es vor Leben nur so wimmelte, konnte doch nicht tot sein, nur weil man nicht auf Schritt und Tritt über Geister stolperte? War ein Gott, den man weder sah noch hörte, weniger echt als eine Sturmgöttin, die man sehen und anfassen und mit der man sich herumzanken konnte? Aber das waren viel zu schwierige Gedanken, über die sie jetzt nicht nachgrübeln wollte. Stattdessen hielt sie sich an das, was sie verstand – Fellstriegeln und das Trischerproblem.
„Können wir diesen Trischer irgendwie loswerden? Kannst du ihm nicht sagen, Frau von Stetten wäre nach – was weiß ich – Afrika gereist, und er könnte ja hinterherfliegen? Dann wäre er aus dem Weg!“
„Für wie lange? Eine Woche, vielleicht zwei? Und dann steht er wieder hier auf der Matte und hetzt mir die Polizei auf den Hals. Und diesmal völlig zu Recht. Für ihn und alle anderen muss es ja so aussehen, als hätte ich etwas mit ihrem Verschwinden zu tun.“ Ben seufzte und tätschelte Nachtfrosts Hals. „Das ist eine ernste Sache, Sonja. Ich weiß nicht, was ich tun soll.“
„Abhauen“, sagte Sonja rebellisch.
Ben grinste, ging aber darauf ein, als sei es ein ernstzunehmender Vorschlag. „Geht nicht, wegen der Pferde.“
„Aruna bitten …“ Aber der Rest des Satzes kam ihr schon nicht mehr über die Lippen; sie hatte ihn auch nicht ernst gemeint. Und Ben schüttelte den Kopf gleichzeitig mit Nachtfrost, der sagte: Das Urteil ist gesprochen. Daran ist nichts mehr zu ändern.
Also würde Asarié noch für lange, lange Zeit als Baum in der zerbrochenen Stadt Lyecenthe herumstehen, während ihr Verrat alle anderen auch nachträglich noch in Schwierigkeiten brachte.
Also gut. Was blieb noch?
Die Lösung war so plötzlich da, dass sie in ihrem Kopf wie ein Licht aufblitzte. Nachtfrost, der sich die ganze Zeit über behaglich striegeln ließ, schnaubte und blickte sich nach ihr um.
„Ben?“, sagte Sonja atemlos. „Die Alraunen?“
Ben hatte gerade begonnen, sich nach dem Wassereimer zu bücken. Er unterbrach die Bewegung und richtete sich wieder auf. „Was?“
„Die Alraunen! Zumindest eine Alraune!“ Es war doch so klar, warum war sie nicht sofort darauf gekommen? „Du brauchst nur eine Alraune zu verwandeln, damit sie wie Asarié aussieht, und dann kann dieser Trischer dir gar nichts mehr!“
Er runzelte die Stirn. „Ich glaube nicht -“
Das war mal wieder so typisch. Alle Erwachsenen kamen erst mal mit Bedenken und Einwänden und Das-geht-so-aber-nicht, wenn man etwas Schlaues vorschlug, an das sie nicht gedacht hatten. Sie hatte nur nicht erwartet, dass Ben auch so reagieren würde. „Wieso denn nicht? Sie sind doch auch für mich und Melanie eingesprungen, und sogar für Corinna und Paul – wenn eine Alraune Corinna spielen kann, dann doch sicher auch Asarié! Sie können doch in alles Mögliche verwandelt werden, oder?“
„Ja, schon, aber -“
„Es ist doch ganz einfach! Du brauchst doch nur -“
„Sonja! Ich bin kein Hexer! Ich bin Brückenbauer! Selbst wenn eine ‚unserer‘ Alraunen bereit wäre, zurückzukommen, könnte ich sie nicht verwandeln.“ Er lehnte sich an Nachtfrosts Seite und legte die Arme auf den breiten Rücken. Nachtfrost hielt still wie ein braves Pferd und drehte nur die Ohren nach hinten.
„Dann musst du eben jemanden finden, der hexen kann. Nur vielleicht nicht gerade Isarde oder Idore.“ Das waren die einzigen Hexen außer Asarié, die Sonja kannte, und das waren auch genau diejenigen Hexen, denen sie niemals wieder begegnen wollte.
„Nein, Sonja“, sagte Ben. „Es geht nicht. Und zwar aus – nein, lass mich ausreden. Aus mehreren Gründen. Erstens müsste ich diese Hexe und die Alraune hierher holen, obwohl ich weiß, dass diese Welt ihnen schadet. Ich will uns aber gerade von hier wegbringen und wäre auch selbst schon weg, wenn ich mir nicht das Problem mit dem Hof, den Pferden und ‚Frau von Stetten‘ aufgehalst hätte. Ich halte nichts davon, Zauber herzubringen. Du hast selbst gesehen, was das für ein Chaos auslöst.“
„Aber -“
„Zweitens wäre ich dieser Hexe anschließend verpflichtet. Und  das -“
„Was heißt das?“
„Das heißt, dass ich gezwungen wäre, ihr ebenfalls einen Gefallen zu tun. Und glaub mir, das ist riskant.“
„Gibt es denn nur böse Hexen?“ Sonja war bitter enttäuscht. Da hatte sie mal eine großartige Idee, und dann taugte sie doch wieder nichts. „Und warum hat Isarde dich dann Hexenmeister genannt, wenn du gar kein Hexer bist?“
„Das hat etwas mit den vielen unterschiedlichen Arten der Magie zu tun. Ich habe es Philipp mal erklärt: über Elementargeister habe ich keine Macht. Ich baue Brücken und kenne ein paar wahre Namen, das ist alles.“
„Aber du kannst Eltern und Polizisten verhexen.“
Ben lächelte ein wenig, ging aber darüber hinweg. „Und nein, es gibt nicht nur ‚böse‘ Hexen. Hexen sind Leute wie alle anderen auch. Manche sind nett, andere sind weniger nett. Mit Isarde und Idore hattet ihr wirklich Pech, aber sie sind eher die Ausnahme als die Regel.“
„Hm.“ Sonja merkte wohl, dass er ihr ausgewichen war; offenbar wollte er noch immer nichts über seine Art der Magie erzählen. Sie hörte auf, an Nachtfrost herumzuputzen; noch glänzender konnte er wirklich nur noch werden, wenn sie ihn mit Glitzerspray besprühte. Einem normalen Pferd hätte sie jetzt eine Möhre als Belohnung gegeben, aber mittlerweile wusste sie, dass ihr außerirdisches Einhorn irdisches Futter gar nicht besonders mochte. Also tauchte sie nur unter seinem Hals durch und hockte sich auf einen der Heuballen in der Stallgasse. „Wer wäre denn eine nette Hexe?“
„Elea vielleicht …“ Ben sah nachdenklich aus. „Aber sie würde nicht herkommen wollen. Bei unserem letzten Treffen sagte sie, ich hätte schon Erdengift im Kopf.“
„Ja, das klingt richtig nett“, sagte Sonja sarkastisch. „Wer ist denn diese blöde Elea?“
„Eine Frau, mit der ich eine längere Zeit meines Lebens verbracht habe. Bis ich anfing, als Beobachter durch die Welt zu reisen. Und als ich dann die Nebelbrücke baute, verließ sie mich. Andere Länder fand sie schon unerfreulich genug, aber andere Welten … damit wollte sie nichts zu tun haben.“
Mit einer solchen Antwort hatte Sonja nicht gerechnet. Sie klappte den Mund auf, aber Ben wartete die Flut von Fragen nicht ab. Er gab dem majestätischen Einhorn einen Klaps auf die Kruppe. „Geh spielen, alter Zossen. Ich muss Futter verteilen. Sonja, hilfst du mir noch?“
„Ja, natü… was, es ist fast fünf?“ Sie sprang auf. „Der Bus kommt jetzt gleich – ich muss los! Tut mir leid!“
„Ist gut“, sagte Ben. „Dann bis morgen!“
Sie rannte schon zum Tor. „Bis morgen! Tschüs, Nachtfr… äh, Nero!“
‚Nero‘ schnaubte belustigt. Du lernst es nie.

Im Bus setzte Sonja sich nach ganz hinten links, lehnte den Kopf an die Scheibe und dachte nach.
Das Blöde an Problemen in dieser Welt war, dass man die Leute, die einem Schwierigkeiten machten, nicht einfach in Bäume oder Kröten verwandeln, in Stein einschließen oder in den Abgrund zwischen den Spiegeln werfen konnte. Stattdessen musste man alles, was man tat, bei der Polizei oder bei irgendeinem Amt registrieren, beglaubigen und rechtfertigen können. Deshalb fielen alle kreativen Lösungen des Trischerproblems, die Sonja spontan in den Sinn kamen, leider aus. Trotzdem sah sie nicht so recht ein, warum Ben sich weigerte, seine Magie einzusetzen. Immerhin konnte er die Gedanken von Menschen beeinflussen. Warum schaute er diesem Trischer nicht einfach tief in die Augen und befahl ihm, Frau von Stetten zu vergessen? Wenn er schon nichts von den Alraunen hielt, war das doch die beste Lösung. Natürlich würde es nicht gerade angenehm sein, Josef Trischer tief in die Augen zu schauen, aber manchmal musste man einfach ein Opfer bringen. Hin und wieder war Ben seltsam.
Aber vielleicht wurde man seltsam, wenn man einem nichtmenschlichen Volk angehörte, Brücken zwischen Welten baute und zusehen musste, wie der schreckliche Dämonennebel die Länder der eigenen Heimatwelt zerstörte. Sonja hatte den zauberischen Völkern von Parva geholfen, den Nebel zurückzutreiben, aber Ben hatte gesagt, dass er sich in anderen Ländern ungehindert weiter ausbreitete.
„Und du kannst sie nicht alle retten. Deine Aufgabe war es, Parva zu retten. Die anderen Länder müssen ihren eigenen Weg finden, sich selbst zu helfen.“
„Aber könnte ich nicht mit Nachtfrost zu ihnen gehen und wenigstens versuchen -“
„Nein“, hatte Ben gesagt. „In Parva hattest du die Sicherheit der Prophezeiung. Aber schon in Raskyd hast du gesehen, was passiert, wenn du außerhalb der Prophezeiung handelst. Es ist zu gefährlich.“
„Aber wir haben es trotzdem geschafft – mehr oder weniger.“
„Sonja.“ Ben hatte sie an den Schultern gefasst und zu sich hingedreht, so dass sie ihn ansehen musste. „Du kannst dort sterben. Und zwar richtig. Ganz gleich, was der Spürer gesagt hat – unsere Welt ist kein Traum, aus dem du einfach wieder aufwachst. Sie ist so real wie diese hier, sie unterliegt nur anderen Gesetzen. Du kannst nicht dort herumreiten wie in einem Ferienpark und darauf vertrauen, dass dir nichts Böses zustößt. Außerhalb der Prophezeiung bist du ein zwölfjähriges Mädchen, das dort genausowenig einen Krieg beenden kann wie hier. Sieh das bitte endlich ein.“
Daraufhin hatte Sonja sich ziemlich beleidigt in die Sattelkammer verzogen und Nachtfrosts Zaumzeug geputzt. Ferienpark! Prophezeiung hin oder her, sie war auch in Parva in gefährliche Situationen geraten und einigermaßen heil wieder herausgekommen. So unfähig war sie nicht. Und ganz gleich, was passierte: sie hatte Nachtfrost, den besten Schutz, den man sich vorstellen konnte. Aber letztendlich waren die Erwachsenen alle gleich. Wenn sie einmal Angst bekamen, nützte alle Logik der Welt nichts mehr.
Und nun hatte Ben nicht nur Angst um ihre Sicherheit, sondern auch Angst davor, noch mehr Magie hierher zu bringen. Er würde es nicht einmal tun, um sich zu retten, wenn dieser Trischer ihm wirklich die Polizei auf den Hals hetzte.
Na toll.
Jetzt hatte Sonja Angst um ihn.

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