Um dem Kleinen Volk zu helfen, sind Sonja und Nachtfrost nach Yé Catheiron zurückgekehrt. Aber dort erwartet sie ein tückischer Gegner. Der Kristall ist dunkel, die Dämonen greifen erneut an, und Sonja stürzt in den Abgrund unter der Höhlenstadt. Und als sie erwacht, ist Parva selbst ihr Feind …

Aztharn

„Wach auf, Sonja“, sagte Morval.
Nein, dachte sie. Das war der einzige Gedanke, der einigermaßen funktionierte. Alle anderen waren irgendwo in der Dunkelheit verschwunden, verstreut und verborgen wie Mäuse, die vor der Katze geflohen waren.
Nein. Nein. Nein!
Was immer geschehen war, sie wollte es nicht wissen. Wo auch immer sie war, sie wollte es nicht sehen.
Eine der Mäuse wagte sich einen Schritt vor.
Sie war gefallen.
Unter ihren Händen und Knien hatte sich der Fels in Luft verwandelt, und sie war in die Tiefe gestürzt, ohne es zuerst auch nur zu begreifen.
Der Mausgedanke zuckte zurück und floh in die Dunkelheit, und selbst das Nein schlingerte haltlos davon.

Ein Gefühl trieb durch die Finsternis. Es dauerte eine Weile, bis Sonjas Bewusstsein sich soweit zusammengefunden hatte, dass sie es bemerkte, und noch länger, bis sie begriff, was es war: eine nagende Sorge, eine schleichende, drückende Angst. Etwas musste geschehen. Etwas durfte nicht geschehen. Aber was? Sie wollte es nicht wissen. Sie schob das Gefühl weg und tauchte wieder in die Tiefe, aber diesmal war die Angst stärker und spülte sie an die Küste des Bewusstseins zurück. So sehr sie sich auch dagegen sträubte: Sie war wach.
Nein.
Schon zweimal hatte sie die Schwelle zwischen Leben und Tod überschritten. Beide Male war sie im Alten Land aufgewacht, in Velerias Welt des Friedens. Aber wo auch immer sie jetzt war, das Alte Land war es nicht. Nicht, wenn ein Dämon bei ihr war.
Nein.
Aber das Nein hatte seine Ausschließlichkeit verloren. Die Mausgedanken kamen zurück, trippelnd und verängstigt, jederzeit wieder bereit zur Flucht und doch unaufhaltsam.
Sie wollte nicht aufwachen. Aber natürlich war sie schon aufgewacht, und wenn sie nicht bis ans Ende aller Zeiten hier liegenbleiben wollte, musste sie sich wohl ansehen, wo sie diesmal gelandet war.
Und wieso eigentlich Morval? Wo kam der denn auf einmal her?
Versuchsweise blinzelte sie ein bisschen und wurde sofort von einem gleißenden goldenen Licht geblendet. Sie kniff die Augen wieder zu. „Was -“, wollte sie sagen, aber aus ihrer Kehle kam kein Laut. Sie versuchte es noch einmal. Was ist passiert? Sie konnte sich selbst nicht hören. War sie taub geworden? Aber nein, dann hätte sie doch Morvals Stimme nicht gehört.
Vielleicht musste sie mit ihm reden wie mit Nachtfrost. Bei dem Gedanken lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken. Also hatte sie noch einen Rücken. Was war mit dem Rest? Sie versuchte sich zu bewegen. Finger. Hand. Hände. Arme. Zehen. Etwas Schweres lag quer über ihrem Bauch. Ihr Körper war noch da. Das war gut. Aber sie hatte keinerlei Schmerzen, und das war schlecht, denn sie musste Schmerzen haben. Sie war ungebremst auf dem Felsboden tief unter Catheiron aufgeschlagen. Sie musste sich sämtliche Knochen gebrochen haben. Wenn sie nicht tot war, musste es wehtun. Aber es tat nicht weh.
Das bedeutete …
„Jetzt komm schon“, sagte der Dämon ungeduldig.
Sie bewegte den Arm und hob die Hand vor die Augen, um sie vor dem Licht zu schützen, und dann blinzelte sie wieder. Das Licht bewegte sich. Es war weit über ihr, es sprang hin und her, und die unzähligen Facetten des gewaltigen Kristalls strahlten bei jeder Bewegung auf. Sie drehte den Kopf und zuckte zusammen. Morvals schwarzgeflecktes Gesicht mit den Steinaugen war direkt neben ihr. Aber wenn sie auf dem Boden lag, warum war das Gesicht dann nicht über ihr? Und warum war der Boden gar nicht steinhart, sondern … weich wie ein Körper? Und warum fühlte sich das Ding auf ihrem Bauch wie ein fremder Arm an?
Mit einem Schlag war sie hellwach. Sie lag gar nicht auf dem Boden. Sie lag auf Morvals Körper, und er lag auf dem Boden. Links und rechts ragten seine schwarzen Flügel wie Schutzwände auf. Panik schoss in ihr hoch und verdrängte alle Fragen. Sie rammte ihm die Ellbogen in den Bauch, zerrte an seinem Arm und trat wild um sich, und in der Gedankensprache konnte sie inzwischen auch recht gut schreien. Lass mich sofort los!
Er ächzte und zog den Arm weg, und sie stieß sich ab und rollte von ihm herunter, aber dann war sein rechter Flügel im Weg. Sie wollte gerade danach schlagen, als ihr die seltsame Form des Flügels auffiel. Er sah aus wie die Speiche eines zerbrochenen Regenschirms. Die Haut war zerrissen.
Gebrochen?
Sie drehte sich um und schaute ihn an. Der zweite Flügel war unnatürlich weit gespreizt. Die schwarzen Flecken in seinem Gesicht … waren Blutflecken. Sonjas Verstand unterbrach seine wilde Flucht und kehrte widerwillig dorthin zurück, wo er sein sollte.
Du … hast mich aufgefangen?
„Mhm“, sagte Morval. Es schien ihn nicht zu stören, dass sie nicht reden konnte. „Nett, dass es dir aufgefallen ist.“
Aber … warum? Ich meine – was ist denn passiert? Sie blinzelte wieder nach oben, aber das Licht war zu hell, und sie musste den Blick abwenden. Sie drehte sich zur Seite, und er zog den Arm weg, damit sie aufstehen konnte. Sie tat es und trat ihm dabei unabsichtlich auf den Flügel. Sein Gesicht verzerrte sich.
Entschuldigung!, sagte sie erschrocken. Das wollte ich nicht!
„Schon gut“, sagte der Dämon, der wie ein schwarzer Käfer auf dem Rücken lag und zu ihr hochschaute. Seine Kleidung war ebenso zerrissen wie seine Flügel und ebenso blutbefleckt wie sein Gesicht. „Und zu dem, was passiert ist: Der Lindwurm beherrscht Hexenmagie. Du dachtest, vor dir sei noch Fels, aber das war nur eine Illusion. Du bist schnurstracks in den Abgrund gelaufen.“
Und du …
„Ich war hinter euch. Ich habe dich fallen sehen.“ Er zuckte mit den Achseln, so gut das im Liegen möglich war. „Ich konnte den Sturz ein bisschen abmildern.“
Du hast mir das Leben gerettet?
„Nicht ganz“, sagte er. „Ich habe dich – den Teil, der so ist wie wir – in meine Welt hinübergezogen. Ob ich den Rest von dir gerettet habe, weiß ich nicht.“
Aber –
„Mehr konnte ich nicht tun. Ich bin kein Einhorn.“
Dann wird Nachtfrost mich retten!
„Der muss gerade sich selbst retten. Der Lindwurm hat ihm alle Aztharn auf den Hals gehetzt, die er einfangen konnte.“
Alle – was?
„Aztharn. So nennen wir uns selbst.“
Das klang logisch – Dämonen würden sich nicht selbst „Dämonen“ nennen. Aber sie hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, denn Morval fuhr fort: „Und sei nicht zu sicher, dass er dich retten würde. Das dort oben ist Arunas reinstes Licht, nur durch den Nebel gefiltert. Ich kann es nicht direkt ansehen, es würde mir die Augen ausbrennen. Und du?“
Natürlich kann ich Nachtfrost ansehen! Wenn er in seiner echten Gestalt ist –
„Das ist seine echte Gestalt“, sagte Morval. „Für mich hat er immer so ausgesehen. Kannst du ihn ansehen?“
Sonja blickte hinauf ins Licht, und sofort begannen ihre Augen zu schmerzen. Sie musste den Blick abwenden, und selbst dann ließ der Schmerz nur langsam nach. Verzweifelt versuchte sie es erneut, aber das Licht war zu hell, zu golden, zu gewaltig – es war, als ob sie versuchte, direkt in die Sonne zu schauen. Sie hielt es keine Sekunde lang aus.
„Er würde dich vielleicht nicht einmal mehr erkennen“, sagte Morval. „Du bist jetzt eine von uns.“
Nein!, schrie sie. Das kann nicht sein! Das ist nicht wahr!
„Du kannst nicht einmal mehr die Sprache dieses Landes sprechen. Glaub mir, es ist wahr.“
Ich will kein Dämon sein!, schrie sie, während ihr die Tränen über das Gesicht liefen. Ich will nicht! Lieber wäre ich tot!
„Bist du sicher?“, sagte er. „Du warst schon immer wie wir, eine Fremde auf dieser Welt. Was würde passieren, wenn du hier stirbst? Möchtest du nicht doch lieber weiterleben, wenn auch verändert?“
Das war eine Frage, die sie nicht beantworten konnte. An der Grenze zwischen Leben und Tod waren schon die größten Menschen ihrer Welt gescheitert – wie sollte eine Zwölfjährige damit umgehen können? Aber eins wusste sie genau: wenn Nachtfrost sie nicht mehr erkannte, wenn sie ihm begegnete und er sie für einen Dämon hielt – dann wollte sie nicht mehr leben.
Aber sie hatte nicht vergessen, was er gesagt hatte, als es darum ging, damit zu leben, dass ein winziger Teil von ihr Teil der Dämonenwelt geworden war.
Als Bote der Göttin könnte ich es nicht, hatte er gesagt. Als Nachtfrost schon.
Das war ihre einzige Hoffnung. Das einzige, woran sie sich klammern konnte. Wenn er sie wenigstens wiedererkannte und sie nicht auf der Stelle tötete, gab es vielleicht – vielleicht – eine winzige Chance für sie, wieder ein Mensch zu werden.
Bis dahin musste sie eine Dämonin sein.
Morval beobachtete sie genau. Und vielleicht hatte sich etwas in ihrem Gesicht verändert, denn er nickte und hob den Arm. „Nimm meine Hand.“
Sie wollte ihn nicht anfassen. Aber er hatte ihr das Leben gerettet – mehr oder weniger -, und er war verletzt. Und er war ein Dämon – wie sie. Also vielleicht so etwas wie ein Verbündeter, obwohl sie ja schon wusste, wie er seine Verbündeten behandelte. Und der Seelentausch hatte ihr schon gezeigt, was er war: ein dunkles, uraltes Wesen, dessen wahre Gestalt sie sich nicht einmal vorstellen konnte. Wahrscheinlich würde sie ihn einfach noch einmal so sehen.
Zögernd streckte sie die Hand aus, und er ergriff sie.
Es geschah – nichts.
Zumindest kein Seelentausch.
Keine überwältigende Fremdheit und Dunkelheit sprang sie an, kein grausames Gelächter und keine höhnische Bosheit. Stattdessen wurde ihr ein wenig schwindlig, und ihre Beine gaben nach. Sie fiel auf die Knie. Morval ließ ihre Hand los und setzte sich auf. Er wischte sich das Blut aus dem Gesicht, und seine gebrochenen und zerrissenen Flügel streckten sich weit aus. Die Knochen fügten sich wieder zusammen. Die Risse schlossen sich. Er stand auf.
„Was hast du gemacht?“ Erst nachdem sie die Frage hervorgestoßen hatte, merkte sie, dass sie wieder sprechen konnte. Ihre Stimme klang heiser und rau, aber sie gehorchte ihr wieder. Aber hatte er nicht gerade eben gesagt … „Was hast du mit mir gemacht?“
„Ich habe dir ein wenig Kraft abgezogen, um mich zu heilen“, antwortete er. „Als Gegenleistung habe ich dir unsere Sprache gegeben. Du wirst sie brauchen. Nicht alle Aztharn können deine Gedanken hören.“
„Also bin ich … jetzt wirklich ein Dämon …?“
„Mhm. Und bevor du fragst: ich weiß nicht, ob du auch noch eine Seelentauscherin bist. Hier unten gibt es keine Seelen, an denen du es ausprobieren könntest.“
„Aber … aber ich habe dich doch gesehen. Damals auf Raskyd.“
„Wenn du mich wirklich gesehen hättest, hättest du es nicht überlebt“, sagte Morval. Er klang nicht überheblich, sondern stellte einfach nur eine Tatsache fest. „Du hast etwas von mir gesehen. Aber nicht meine Seele. So etwas habe ich nicht.“
„Und was … was mache ich jetzt?“
“Deine Entscheidung. Du könntest nach Raskyd gehen und -”
„Nein!“ Was sollte sie auf der Dämoneninsel? Was taten Dämonen überhaupt? Wie sah jetzt ihre Zukunft aus? Unwillkürlich blickte sie wieder nach oben, und obwohl sie das Licht nicht direkt anschauen konnte, sah sie doch ein paar Dinge viel deutlicher. Durch den Nebel hindurch erkannte sie den dunklen Kristall und die Felsen, und sie konnte auch die Dämonen – die Aztharn – besser erkennen. Immer noch griffen sie Nachtfrost an, und immer noch sprang er vor und zurück. Aber er schien sie nicht zu töten. Oder sie standen immer wieder auf. Wie lange konnte er das durchhalten? Wieviel Zeit war überhaupt vergangen? Und was tat Sishyal; saß er einfach dort oben auf dem Kristall und schaute zu, wie Nachtfrost um sein Leben kämpfte?
„Wie lange war ich bewusstlos?“
Der große Mann zuckte mit den Schultern. „Eine Weile. Einen halben Tag? Vielleicht mehr, vielleicht weniger. Wir messen die Zeit nicht.“
Sie blickte sich um. Die Höhlenwände waren in Nebel und Dunkelheit verborgen. Irgendwo hoch über ihr musste die Stelle sein, an der der Fährmann sie und ihre Freunde mit seinem Boot abgeholt hatte, um sie nach Raskyd zu bringen. Und jetzt erst begriff sie, dass sie sich mitten im Nebel des Weißmeeres befand und nicht die geringsten Atemprobleme hatte, ebensowenig wie Morval, der überhaupt nicht mehr krank und geschwächt aussah.
Wenn sie jetzt irgendwie an den Höhlenwänden hinaufkletterte und den Nebel verließ, würde die Luft von Parva sie töten.
Sie konnte nicht nach Hause. Ihre Freunde konnten ihr nicht helfen. Sie würde nicht einmal mit ihnen reden können. Die Wesen von Parva, die sie gerettet hatte, konnten ihr nicht helfen. Den Seelentausch hatte sie verloren. Das brauchte sie gar nicht auszuprobieren, denn sie wusste genau, dass Aruna niemals erlauben würde, dass eine Dämonin so etwas besaß. Wenn sie jetzt einem Kenach begegnete, würde er sie einfach fressen. Und als sie sich zu Morval umdrehte, um ihn zu fragen, ob sie als Dämonin überhaupt irgendwelche besonderen Kräfte hatte, war er verschwunden. Einfach so.

Sie weinte eine Weile. Nicht besonders hysterisch, aber die Tränen ließen sich auch nicht stoppen. Wie auch? Sie hatte alles verloren. Sie war allein und hilflos und konnte überhaupt nichts mehr tun. Sie war nicht mehr Yeriye Sonja, und Parva war jetzt ein feindliches Land. Sie würde vielleicht nicht einmal mehr mit Philipp und Melanie reden können, wenn sie sie je wiedertraf. Falls sie sie wiedertraf …
Warte mal, sagte ihr Verstand. Falls du sie wiedertriffst? Was soll das denn? Natürlich wirst du sie wiedersehen! Und dann sprechen sie ganz normales Deutsch, also wirst du natürlich auch mit ihnen reden können!
Und ganz gleich, ob sie magische Kräfte besaß oder nicht: sie musste Nachtfrost helfen. Nur wie? Es war dumm gewesen, Sishyal unvorbereitet entgegenzutreten, soviel wusste sie jetzt. Aber woher hätte sie wissen sollen, dass er Hexenkräfte besaß? Was war das überhaupt? Was hatte der Lindwurm des Spürers mit Hexen zu tun?
stein herz wind kammer flüsterte es in ihr. Aber das war nur eine Erinnerung, kein wirklicher Kontakt zu irgendjemandem, der ihr helfen konnte.
Irgendwann hörten die Tränen endlich auf zu fließen. Sonjas Kopf fühlte sich merkwürdig an, als hätte sich etwas gedreht und sei gerade zur Ruhe gekommen. Ein wenig unsicher stand sie auf und blinzelte gegen das Licht nach oben. Es sprang und flog immer noch hin und her. Was würde geschehen, wenn sie an der Höhlenwand und dann auf all den Leitern und Treppen nach oben kletterte? Konnte Nachtfrost sie dann einfach heilen? War es vielleicht doch ganz einfach? Sie musste es versuchen.
Sie machte sich auf den Weg zu der Höhlenwand unterhalb des Felsvorsprunges, von dem sie abgestürzt war und auf dem Nachtfrost kämpfte.
„Tu das nicht“, sagte Morvals Stimme hinter ihr, und sie wirbelte herum. Ihr Herz schlug bis zum Hals.
„Was soll das? Du hast mich erschreckt!“
„Gut so“, sagte der Dämon. „Dann wirst du vielleicht ein bisschen vorsichtiger. Sehe ich das richtig, dass du an der Wand hinaufklettern willst?“
„Geht dich gar nichts an.“
„Natürlich nicht“, stimmte er zu. „Aber bevor du das tust, solltest du vier Dinge bedenken. Erstens ist die Wand sehr steil und glatt. Zweitens wirst du außerhalb des Nebels nicht atmen können. Drittens wird Nachtfrost dich angreifen. Vier-“
„Wird er nicht! Das würde er nie tun! Er ist mein Freund, und du bist ein Monster!“
„Bin ich das?“, sagte er. „Möchtest du wissen, was du bist?“
„Weiß ich doch schon! Aber er wird mich erkennen! Ich bin doch immer noch ich!“
„Mhm“, sagte er und zog etwas aus einer Tasche. „Ich dachte mir schon, dass es schwierig würde, dich zu überzeugen. Deshalb habe ich einen Spiegel geholt. Du weißt doch, was ein Spiegel ist?“
„Natürlich weiß ich das! Es ist ein Tor zu einer anderen Welt!“
Einen Moment lang blickte er sie nachdenklich an, dann nickte er. „Das ist richtig. Aber man kann sich auch darin anschauen.“
„Was? Wie soll das denn gehen?“
Er hob den kleinen Gegenstand hoch. Es war eine runde Metallscheibe mit einem Griff, und Morval hielt sie Sonja entgegen. Zu ihrer Verblüffung schaute ein Wesen sie daraus an.
Es war ein aufrecht gehender Zweibeiner mit Armen und Beinen wie Morval, nur viel kleiner und dünner. Es hatte braune, schulterlange Haare, weit aufgerissene steingraue Augen, eine Nase und einen Mund. Der Oberkörper hatte zwei kleine Beulen an der Vorderseite und war in ein dunkelblaues Kleidungsstück gehüllt, aus dem oben der Kopf und an den Seiten die Hände hervorragten. Die Beine steckten in zwei Stoffröhren aus hellerem Blau, die am Unterkörper zu einer Art Schale zusammengenäht waren.
„W-was ist das?“
„Das bist du“, sagte Morval.
„Nein!“ Ihre Stimme wurde schrill. „Die Augen, gut, aber der Rest – nein! Das bin ich nicht! So sehe ich nicht aus!“
„Doch, ganz sicher“, sagte er. „Aber du hast dich schon selbst vergessen. Wie soll das Einhorn dich erkennen, wenn du dich nicht einmal selbst erkennst?“
„Nein – nein -“
“Was denkst du denn, wie du eigentlich aussehen müsstest?”
“Ich -” Sie brach ab. Sie wusste es nicht. Aber sie war ganz sicher, dass ihr wahres Aussehen nichts mit der menschenartigen Gestalt im Spiegel zu tun hatte. Sie war … dunkler. Formloser und formbarer, wie Morval selbst.
Anders”, sagte sie.
“Nein”, sagte Morval. “Das ist deine Gestalt. Du bist jetzt Aztharn, aber du warst vorher ein Mensch und wirst … hoffentlich … auch später wieder ein Mensch sein, auch wenn ich noch nicht weiß, wie das geschehen wird. Hör zu, behalte diesen Spiegel. Mach ihn nicht kaputt. Schau immer wieder hinein. Das Spiegelbild bist du. Das ist die Wahrheit. Wenn du je wieder ein Mensch werden willst, darfst du das nicht vergessen.“
„Ich … war ein Mensch?“ Dieses seltsame Wesen im Spiegel war also ein Mensch? Sie konnte sich nicht vorstellen, so etwas werden zu wollen. Sie war Aztharn. Aber Morval war der Herrscher im Nebel. Wenn er etwas sagte, dann war es richtig, auch wenn sie es nicht verstand.
Ratlos hielt sie den Spiegel in der Hand und fragte sich, wie sie ihn verstauen sollte. Dann fiel ihr Blick auf einen Gegenstand, der auf dem Boden lag. Sie hockte sich hin und untersuchte ihn. Es war ein Beutel aus Stoff, an dem zwei feste Stoffstreifen befestigt waren. Eine Art Tasche, die man … vielleicht auf dem Rücken tragen konnte. Sie öffnete die Tasche und holte ein paar Gegenstände daraus hervor. Keiner davon sah vertraut, bekannt oder auch nur verständlich aus. Dann fand sie ein Messer und ein längliches Rohr mit Löchern. Das Messer steckte sie sich in eine Schlaufe an der … an der … Hose. Man nannte das eine Hose. Seltsam, sie trug beinahe die gleichen Kleidungsstücke wie das Wesen im Spiegel.
Das längliche Rohr berührte etwas in ihrer Erinnerung. Ein freundliches altes Gesicht. Ein Lächeln. Nimm sie mit. Du wirst sie brauchen.
“Was ist das?”
“Eine Flöte”, sagte Morval.
“Wozu ist das gut?”
“Du kannst damit Musik machen. Setz sie an die Lippen und blas vorsichtig in das Loch am oberen Ende. Wenn du die Löcher mit den Fingern abdeckst, ändern sich die Töne.”
Sie versuchte es und blies vorsichtig in das Loch. Ein heller, klarer Pfiff klang durch den Nebel, und sie zuckte zusammen und ließ das Rohr fallen. Gerade als sie sich bücken wollte, um es aufzuheben, kam von weit oben aus dem goldenen Licht ein wilder, wortloser Schrei voller Zorn und Angst. Sonja erstarrte mitten in der Bewegung. “Was ist das?”
“Ein Einhorn.”
“Ein … Einhorn … Ich kenne ein Einhorn! Er ist schwarz und silber und heißt … er heißt …” Was war nur mit ihr los? Was waren das für Erinnerungen? Hatte sie nicht ihr ganzes Leben im Nebel verbracht? Warum war sie so durcheinander?
Morval wartete. Warum hatte er so viel Geduld mit ihr? Er war der Herrscher. Er tötete Aztharn, die ihn störten. Er hatte einen Rennfresser getötet … aber Sonja gegenüber war er schon immer geradezu freundlich gewesen. Natürlich hatte er sie damals nur zu Königin Teirashna gebracht, um sie für sein Machtspiel zu missbrauchen, aber so etwas taten Herrscher nun einmal, und er hatte sie anschließend nicht getötet.
Er hatte …
… er war anschließend verschwunden.
Ein Mann mit schwarzer Haut hatte …
“Wie heißt nun dein Einhorn?”, unterbrach Morval ihre herumirrenden Gedanken mit ruhiger Stimme.
Der Name leuchtete in ihrem Kopf auf, und alle Verwirrung schwand. “Nachtfrost!”
“Gut. Und was ist dein Ziel?”
„Nachtfrost helfen“, sagte sie sofort.
„Und wie willst du das tun?“
„Den Lindwurm besiegen.“
„Wie willst du ihn besiegen?“
„Steinherz Windkammer.“
Seine Augenbrauen wanderten in die Höhe. „Sieh mal an. Was weißt du darüber?“
Sie zögerte. „Ich … weiß nicht. Es fühlt sich richtig an, aber ich weiß nicht, was es ist.“
„Weißt du noch, wer Nachtfrost ist?“
„Arunas Licht! Ein feuriger Windgeist.“
„Und dein Freund. Solange du das weißt, ist es gut.“
Hielt er sie für dumm? „Ich würde das nie vergessen! Aber – weißt du denn etwas über diese Dinge? Steinherz? Windkammer? Was ist das?“
„Über ein Steinherz kann ich dir nichts sagen. Aber die Windkammer ist ein Ort, den du kennst. Der Thronsaal von Cereizal auf Raskyd.”
Verblüfft starrte sie ihn an. “Das ist die Windkammer? Ich wusste nicht -”
“Wer hat dir den Namen genannt?”
“Ein toter Stein im Weißmeer.” Es kam ihr nicht besonders ungewöhnlich vor, und Morval nickte nur.
„Da muss ich hin“, sagte sie entschlossen.
„Nach Cereizal?“
Sie nickte. „Ich muss wissen … ich muss … Kannst du mich dort hinbringen?“
„Nein. Ich bleibe hier und halte den Kampf im Gleichgewicht, bis du zurückkommst.“
„Nachtfrost darf nicht sterben!“
Der große Mann verzog den Mund zu einem Lächeln, als er auf sie herabblickte. „Bis du zurückkommst. Danach liegt es in deiner Hand.“
„Kann ich fliegen?“
„Nein. Aber du kannst laufen. Geh nach Nordosten bis zum Aschenfall. Von dort aus geh direkt nach Osten. Wenn du Raskyd erreichst, folge der Straße nach Norden. Und nimm dich in Acht vor den Elyma. Wenn sie dich fangen, werden sie dich töten.“
Das klang einfach. Sonja drehte sich um und rannte los.

*

Als sie in der nebelgefüllten Dunkelheit verschwunden war, ließ Morval seine Tarnung fallen. Seine Knie knickten ein, und er sackte mit einem Schmerzenslaut zusammen. Er war viel schwerer verletzt, als er Sonja hatte sehen lassen, denn um sie zu retten, hatte er sich im allerletzten Moment unter sie geworfen, hatte sie mit seinen Flügeln geschützt und war selber ungebremst aufgeschlagen. Beide Flügel und mehrere Rippen waren gebrochen, und etwas in seinem Rücken knirschte und schmerzte bei jedem Atemzug. Natürlich war er ein Gestaltwandler und konnte sich ebenso leicht heilen wie verändern, aber die Gestalt des geflügelten Mannes war schon seit so vielen Jahrhunderten seine bevorzugte Form, dass sie sich wie mit Haken an seinem innersten Kern festgekrallt hatte. Jede Veränderung und jede Verletzung reichte tiefer, als sie es eigentlich sollte, und es würde diesmal länger dauern, sich zu heilen, weil er sich in seinem Geist ständig gegen den Zwang des Lindwurms wehren musste, der ihn zu sich rief.
Und als er dorthin blickte, wo das Mädchen verschwunden war, konnte er nicht einmal sagen, ob er sie wirklich gerettet hatte. Es war gar nicht seine Absicht gewesen, sie in seine Welt zu ziehen, und sie hatte sich viel schneller in eine Aztharn verwandelt, als er erwartet hatte. Wieviel von ihrer wirklichen Natur war noch übrig? Genug, um sie zurückzuverwandeln?
Hier ist nun deine Seelentauscherin, Aruna, dachte er. Es war keine Gedankensprache, denn obwohl Morval einer der mächtigsten Aztharn in dieser klaffenden Wunde der Welt war, wagte er es nicht, die Göttin direkt anzusprechen. Auf dem Weg zur Windkammer. Was hast du dort verborgen, dass selbst wir es in all den Jahrtausenden nicht bemerkt haben? Wie soll es uns im Kampf gegen den Lindwurm helfen?
KOMM.
Seine Gedanken verschwammen, als Sishyals Befehl durch seinen Kopf dröhnte. Es war nicht mehr nur die Stimme des Wurms, sondern ein brausender Chor aller Seelen und aller Aztharn, die das Monster in sich aufgenommen hatte. Morval wankte unter der Macht dieses Befehls, und seine Lippen zuckten in einem Lächeln, das eher eine Grimasse war. Vielleicht konnte er sein Volk nicht retten. Vielleicht nicht einmal sich selbst, aber er konnte widerstehen, so lange es nur möglich war. Es war nur gut, dass seine Flügel gebrochen waren, denn so würde er gezwungen sein, nach oben zu klettern. Dadurch konnte er den Moment hinauszögern, in dem Sishyal ihn überwältigen und seine Macht in sich aufnehmen würde. Vielleicht konnte er ihnen dadurch ein wenig mehr Zeit verschaffen – dem Einhorn, das ihn jetzt ohne zu zögern angreifen würde, und dem Menschenmädchen, einer kleinen selbstvergessenen Dämonin auf dem Weg durch die tödliche Tiefe.

***